«Kaum konnte ich allein und ohne Stützräder Velo fahren, wurde ich für die Stoffbeschaffung eingesetzt. Anfangs waren es noch zwei Flaschen Bier und zwei Pack Zigaretten. Im Zuge meiner körperlichen Entwicklung steigerte sich die Quantität der elterlichen Bestellung. Meine Eltern waren psychisch und alkoholkrank. Meist fanden Alkoholexzesse, Gewaltvorfälle und teils hilferufende, teils ernst gemeinte Suizidversuche meiner Mutter hinter verschlossenen Türen statt. Hin und wieder drang etwas nach draussen, wurde sichtbar. Die Ambulanz vor dem Haus, das ramponierte Auto nach dem Restaurant-Besuch, wo wir Kinder uns geduldig bis zur Verzweiflung auf dem Spielplatz austobten. Mein Bruder und ich, wir hatten keine Lobby. Selten wurden wir verprügelt, so dass Spuren zu sehen waren. Meine Mutter ging taktisch geschickt vor. Unser Familiensystem blieb unangetastet. Nahe Verwandte wussten Bescheid, nahmen uns auf, wenn wir flüchten mussten. Den Gang zu Behörden schafften sie nicht. Heute weiss ich, sie waren überfordert», erzählt Michel Sutter, 46, der seine Geschichte verschriftlicht und für die Aktionswoche zur Verfügung gestellt hat. Er möchte mit seiner Geschichte Aussenstehende und Fachpersonen ermutigen, in Situationen wie dieser, zu agieren.
Kindheit mit suchtkranken Eltern
In der Schweiz wachsen schätzungsweise 100 000 Kinder in einem Elternhaus mit suchtkranken Eltern auf. Häufig ziehen sich betroffene Kinder in Schweigen zurück und versuchen, allein mit den Belastungen zurechtzukommen. Bei Kindern erzeugt die Situation chronischen Stress. Normalität und Sicherheit gehen verloren und Unsicherheit sowie Instabilität dominieren den Alltag. Kinder von alkoholkranken Eltern haben im Vergleich zu anderen Kindern ein bis zu sechsfach höheres Risiko, als Erwachsene selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln. Etwa 30 Prozent der Kinder von alkoholabhängigen Eltern werden als Erwachsene selbst suchtkrank. Damit sind diese Kinder die grösste bekannte Risikogruppe in der Suchtprävention. Obwohl die Betroffenen eine bekannte Risikogruppe darstellen, werden nicht alle Kinder, die mit einem alkoholkranken Elternteil aufwachsen, im Verlauf des Lebens selbst suchtkrank. Ein signifikanter Anteil wächst gesund auf und entwickelt keine nennenswerten Störungen. Die grosse Herausforderung besteht darin, betroffene Kinder so schnell wie möglich zu identifizieren und ihnen angemessene Hilfe anzubieten.
Tabu brechen und Hilfe leisten
Mit der dritten nationalen, von der gemeinnützigen Stiftung Sucht Schweiz koordinierten Aktionswoche für Kinder von suchtkranken Eltern, soll das Tabu gebrochen und die Öffentlichkeit für die Situation und die Bedürfnisse dieser Kinder sensibilisiert werden. Gerade während der Corona-Pandemie und den Lockdowns leiden die Betroffenen umso mehr. Zahlreiche Organisationen in 15 Kantonen führten hierzu, vom 8. bis 14. März, 29 öffentliche Aktionen durch. Lesungen, Ausstellungen, Informationsveranstaltungen und Beiträge in Sozialen Medien sollen mehr Leute zum Thema aufklären. In Schaffhausen wurden während der Aktionswoche von der Fachstelle Gesundheitsförderung, Prävention und Suchtberatung jeden Tag Informationen zum Thema auf Facebook gestellt. Besonders Fachpersonen, die im beruflichen Alltag mit diesen Kindern in Kontakt treten (Mitarbeitende von Krippen, Tagesbetreuungen, Mittagstischen, Lehrpersonen, Schulsozialarbeitende, Kinderärzte und so weiter) sollten auf die Bedürfnisse dieser Kinder geschult werden – etwa mit Weiterbildungen und Infomaterialien. Sie spielen eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, gefährdete Kinder zu erkennen.
Massnahmen zum Schutz
«Verändert sich das Verhalten und das Wohlbefinden von dem Kind oder Jugendlichen oder macht es sogar konkrete Andeutungen oder isoliert es sich von seinen Freunden, lohnt es sich mit dem Kind oder dem Jugendlichen in einem ruhigen Moment das Gespräch zu suchen», erklärt Sandra Walter von der Fachstelle Gesundheitsförderung und Prävention in Schaffhausen. Danach empfehle sich ein Austausch mit einer externen Fachperson, sei dies eine Suchtberatung oder mit der Schulsozialarbeit. Onlineberatungsangebote wie auf safezone.ch oder mamatrinkt.ch bzw. papatrinkt.ch seien ebenfalls zu empfehlen. «Der Grundsatz sollte sein – hinschauen statt wegschauen. Wichtig ist, dass die Kinder als erstes eine vertrauensvolle Bezugsperson aus ihrem Umfeld haben, die sie auf diesem Weg begleitet», so die Fachmitarbeiterin. Wenn sich suchtkranke Eltern in Behandlung begeben, werden auch für die Kinder unterstützende Massnahmen mitgedacht. «Sobald das Kind in der Schule ist, kann es sich an Lehrpersonen oder an die Schulsozialarbeit wenden. Die Suchtberatung macht auch Erstgespräche und triagiert meist an weitere medizinische und soziale Fachinstitutionen», erklärt Sandra Walter. «Hätte ich im Alter von fünf, acht oder auch vierzehn Jahren mit jemandem offen über meine Situation reden können, so wäre mir vielleicht schon damals klar geworden, dass ich nicht die Verantwortung für das Wohl meiner Eltern und die Rettung meiner Familie zu tragen hatte. Wirklich erkannt und verstanden habe ich das erst dreissig Jahre später», schreibt Michel Sutter. In seiner Situation hat damals eine Vertrauensperson gefehlt. Das soll sich ändern.