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Kultur
22.07.2025

Verpetzen mit historischen Folgen

Grün und lila dominieren im fein geschmückten Ausstellungsraum des Museum zu Allerheiligen. Unter der Leitung des Kurators Daniel Grütter wird hier bis am 4. Januar ein Teil der riesigen Spielkartensammlung ausgestellt.
Grün und lila dominieren im fein geschmückten Ausstellungsraum des Museum zu Allerheiligen. Unter der Leitung des Kurators Daniel Grütter wird hier bis am 4. Januar ein Teil der riesigen Spielkartensammlung ausgestellt. Bild: Ronny Bien
In Schaffhausen wird Spielkartenkunst zum Spiegel ihrer Zeit: Ein faszinierender Kartenschatz erzählt über Jahrhunderte hinweg von Kunst, Kultur und Gesellschaft. Die Ausstellung «SpielKartenKunst» zeigt die Jasstradition, Subkultur, erotische Kartenspiele sowie die bedeutendste Spielkartensammlung der Schweiz.

Nicht alle haben es auf dem Radar, dass die Region Schaffhausen eine Pionierrolle beim Jassen einnimmt. Aus den Niederlanden gelangte das Spiel Ende des 18. Jahrhunderts durch Söldner, Werber und reisende Handwerker in die Flussregionen der Schweiz. Besonders im Bodenseeraum, entlang des Rheins und eben auch im Schaffhauserland fand es rasch Anklang. Den frühesten schriftlichen Nachweis liefert ein Ratsprotokoll der Stadt Schaffhausen aus dem Jahr 1796: Vier Bauern wurden angezeigt, weil sie in einem Wirtshaus in Löhningen dem damals neuartigen Spiel frönten. «Überliefert ist, dass wohl der Dorfpfarrer die Bauern bei der Obrigkeit verpetzte, weil sie ihre Zeit zu ausgiebig im Wirtshaus verbrachten und dort ein neues, offenbar wenig willkommenes Kartenspiel spielten, das sie ‹Jassen› nannten», sagt Daniel Grütter.

Hochburg dank AGM

Die Spielkarte hat in Schaffhausen eine lange Geschichte: Das Museum zu Allerheiligen bewahrt mit über 18 000 Kartensets und mehr als einer Million Karten die bedeutendste Spielkartensammlung der Schweiz. Daniel Grütter, der seit bald 25 Jahren im Museum zu Allerheiligen kuratiert, erklärt: «Dieser Bestand erlaubt es uns, regelmässig Ausstellungen auf höchstem Niveau zu realisieren.» Aktuell zeigt das Museum mit «SpielKartenKunst» eine Schau, die unter anderem mit hochspannenden Werken von Félix Vallotton, HR Giger, Niki de Saint Phalle, Jean Dubuffet den Fokus auf künstlerische Positionen legt.

Dass Schaffhausen als Hochburg des Kartenspiels gilt, hat nicht nur mit seiner frühen Jasshistorie zu tun, sondern auch mit der Spielkartenfabrik AG Müller. Deren Geschichte beginnt 1828 im Haus «Zum Korallenbaum» auf dem Herrenacker. 1898 verlegte man den Firmensitz nach Neuhausen am Rheinfall. Über viele Jahrzehnte hinweg produzierte AG Müller Jass-, Skat-, Tarot- und Quartettkarten für den Weltmarkt und war die bedeutendste Spielkartenfabrik der Schweiz. Seit 1999 gehört sie zur internationalen Cartamundi-Gruppe, produziert wird heute in Turnhout, Belgien, ab nächstem Jahr dann in Spanien. Der historische Firmenbestand wurde dem Museum übergeben – und bildet das Herzstück der Schaffhauser Sammlung.

Daniel Grütter kuratiert seit bald 25 Jahren im Museum zu Allerheiligen. Die aktuelle Ausstellung «SpielKartenKunst» zeigt einen Zeitstrahl der Geschichte der Spielkarten. Hier posiert er vor der «Liegenden Venus», die zu Werbezwecken einem japanischen Nachtclub diente. Bild: Ronny Bien

Region regelmässig im Fokus

Die Ausstellung beleuchtet auch das Jassen als Kulturgut. Seit 2011 ist es Teil der nationalen Liste der lebendigen Traditionen, die vom Bundesamt für Kultur geführt wird. Diese basiert auf dem UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung immateriellen Kulturerbes. Das Jassen wird damit offiziell als gesellschaftlich und kulturell verankertes Gut anerkannt.

Ein Pionier des organisierten Jasssports ist Göpf Egg. 1969 initiierte er die ersten Schweizer Jass-Meisterschaften und setzte sich für die Vereinheitlichung der Spielregeln ein, insbesondere für den Differenzler. «Mittlerweile liegt die zehnte Auflage des Regelwerks vor, weil immer wieder neue Spielsituationen auftauchen, die ergänzt werden müssen», berichtet Grütter. Heute sind über 70 Jassvarianten bekannt. Egg prägte als langjähriger Schiedsrichter und Kommentator auch die Jasssendungen des Schweizer Fernsehens – vom ursprünglichen Mittwochs-Jass über den beliebten Samschtig-Jass bis zum Donnschtig-Jass. Auch die Region Schaffhausen war regelmässig Schauplatz der beliebten Jassformate des nationalen TV᾿s. 1984 wurde eine Sendung in Stein am Rhein aufgezeichnet, es folgten weitere in Neuhausen, Thayngen sowie in mehreren Klettgauer Gemeinden. Ein besonderes Highlight war am 28. Mai 1988 die Austragung der Jass-Europameisterschaft in Schaffhausen. Jüngst war das SRF-Format im Rafzerfeld zu Gast.

Von verdrehten Hierarchien und nackten Tatsachen

Zu den ältesten Stücken der Sammlung zählen Karten mit dem sogenannten «Basler Bild» aus der Zeit um 1530, entdeckt beim Restaurieren eines Bucheinbands in Schaffhausen. Besonders kritisch beäugt wurden Kartenspiele einst von den Obrigkeiten, da sie die gesellschaftliche Ordnung infrage stellten. Das frühneuzeitliche Spiel «Karnöffel» etwa kehrte mit dem Triumph des Bauern über den König bewusst die Hierarchien um – eine provokante Geste in einer streng gegliederten Gesellschaft. Auf manchen Blättern zeigt der Bauer sogar demonstrativ seinen nackten Hintern als Karikatur sozialer Spannungen. Solche Bildideen verdeutlichen, in welchem Spannungsfeld sich Spielkarten bewegten – zwischen Spiel, Symbolik und Subversion.

Dass Spielkarten stets den Zeitgeist reflektieren, zeigt sich auch in jüngeren Beispielen. So entstanden feministische Sets mit weiblichen Bildkarten, inspiriert etwa vom Frauenstreik 1991. Auch Kartenspiele mit queeren Figuren wurden im Umfeld der CSD-Bewegung in den 1970er-Jahren gestaltet. 2024 geriet das Kartenspiel Tichu in die Kritik, weil dieses als rassistisch empfunden wurde. «Dieses Spiel ist für unsere Sammlung natürlich höchst interessant, insbesondere für künftige Ausstellungen, da es einen gesellschaftlichen Kontext aufweist.», entgegnet Grütter. Weitere Positionen wie Erika Estler-Lorenz᾿ Serie «PUNX» von 1992 zeigen, wie Spielkarten auch als Ausdrucksmittel für Subkulturen und Widerstand genutzt werden. Sogar Sammelkartenspiele wie Pokémon gelten heute als kulturell bedeutsam, obwohl sie aufgrund ihrer Vielfalt schwerer zu archivieren sind. «Gerade bei Pokémon sprechen wir von astronomischen Summen, wenn man ein vollständiges Set zusammentragen will», sagt Grütter. Einzelstücke mit besonderer Geschichte können aber sehr wohl in die Sammlung aufgenommen werden.

Venus von Kyoto

Spielkarten wurden auch für politische und popkulturelle Zwecke eingesetzt. Ein prominentes Beispiel ist das Kartenspiel der US-Armee zur Festnahme der meistgesuchten Iraker nach dem Sturz Saddam Husseins 2003. Zu den ausgestellten Besonderheiten zählen auch das Werbespiel eines japanischen Nachtclubs in Kyoto mit dem Titel «Liegende Venus» von 1967, das ein Aktbild aus 56 Spielkarten zeigt, sowie das düstere Baphomet-Tarot von HR Giger aus dem Jahr 1992. Wer mehr über dessen Hintergrund erfahren will, kann am Sonntag, 17. August, die Veranstaltung «Tarot – Kunst und Esoterik» mit Franziska Fellner besuchen. Mit «SpielKartenKunst» setzt das Museum zu Allerheiligen seine Reihe bedeutender Ausstellungen fort, die sich dem Spiel als Kulturgut widmen. Die Schau läuft noch bis zum 4. Januar und öffnet den Blick auf Spielkarten als Zeitzeugen, Kunstwerke und gesellschaftliche Spiegelbilder.

Polarisieren und provozieren gehört zur Geschichte der Spielkarten. Hier eine Version vom Jahr 1992 mit den PUNX-Karten von Erika Estler-Lorenz. Bild: Ronny Bien
Ronny Bien, Schaffhausen24