Das Mädchen wurde drei Jahre vor Kriegsende geboren, in einem Weiler ausserhalb Villa Estenze. Ihr Vater starb im Krieg. Wie und wann wollte ihr nie jemand sagen. Leonarda war erst zwei als ihre Mutter in einen Bus stieg, der arbeitssuchende Leute mitnahm. Die Mutter kam in die Schweiz, nach Neuhausen in die Küche und Haushalt von Corrà. Sie versuchte jeweils ein wenig vom kleinen Lohn nach Hause zu senden. Einmal im Jahr, für zwei Wochen, besuchte sie ihr Kind. Für die Mutter war das sicher ein schwerer Weg. Für Leonarda blieb sie immer eine fremde Frau.
Aufwachsen bei den Grosseltern
Ihre «Eltern» waren der Grossvater und die Nonna. «Ich hatte es schön», erzählt sie. Dass sie so arm waren störte sie wenig. Alle um sie herum hatten es gleich und zu essen gabs immer genug. Mais und Weizen wurde von Hand gepflanzt und geerntet, die Körner wurden beim Müller im Dorf gemahlen. «Ich lernte alles von meinem Grossvater.» Polenta, Pasta von Grund auf machen, alles von Hand. Gemüse wurde angebaut, es hatte einen Nektarinen Baum, Äpfel und Trauben. Leonarda musste die Gänse weiden. Jährlich wurde ein Schwein grossgezogen.
Leben in einfachen Verhältnissen
Alle drei Wochen ging der Grossvater auf den Markt nach Estenze und brachte seiner Enkelin einen Zweig Datteln. Sonst kannte sie keine Süssigkeiten, keine Bananen.
Das Haus bestand aus einem Zimmer. «Das war eine Hütte, kein Haus», meint Leonarda sachlich. Über der Feuerstelle hing der Kessel für die Polenta, daneben stand ein einfacher Kochherd. Gefeuert wurde mit dürren Maisstengeln- und Spindeln. (Wald hatte es nirgends in der Po Ebene.) Tisch und Stühle und ein Bett für alle drei hatte es, die Matratze war ein Sack gefüllt mit dürren Maisblättern. «Daran denke ich, wenn ich heute ein Inserat sehe für Matratzen!» In den heissen Sommernächten schlief sie draussen mit dem Grossvater. Leonardas Augen leuchten auf bei den Erinnerungen. «Ich hatte nie das Gefühl, mir fehle etwas.»
Lebensbedingungen und Herausforderungen
Strom, Heizung oder Wasser gab es nicht im Haus. Das Geschirr spülten sie vor dem Haus in einem Becken, mit kaltem Wasser. Gewaschen wurden die Kleider von Hand, in einem Zuber und im Bach gespült. Anstelle einer Toilette hackte man ein Loch in den Acker. Auch nachts musste sie nach draussen, da hatte es leuchtende Katzenaugen. «Ich fürchtete mich!» Leonarda erinnert sich noch wie der Fluss Po die Gegend überschwemmte und sie auf das Dach klettern mussten und dort warten, bis jemand sie rettete.
Spiele mit Steinen mit ihrem Cousin der nebenan wohnte, boten lustige Unterhaltung. Dazu Versteckspiele im unterirdischen Tunnel welcher als Bunker diente während dem Krieg.
Neuanfang in der Schweiz
Die Mutter hatte inzwischen in der Schweiz einen Italiener geheiratet, es gab drei Halbgeschwister. 1953 musste die zehn-jährige Leonarda in die Schweiz ziehen, zu dieser fremden Mutter mit ihrer fremden Familie, eine fremde Sprache und Kultur. In Neuhausen setzte man sie zuerst von der fünften Klasse wieder zurück in die Dritte, wegen der Sprache. «In der Schule war ich der Sündenbock», erzählt sie nüchtern. Vor allem Buben mobbten sie. Die Erlebnisse prägen. «Ich habe ein ganz anderes Verständnis für unsere Fremden, für die Ausländer hier.»
Arbeit und erste Liebe
Mit 14 Jahren fand Leonarda im Kinderheim Löhningen Arbeit. Dort lernte sie Willi Stamm kennen, als er eine Reparaturarbeit ausführen musste. Mit 18 Jahre heiratete sie. Der harte Anfang in Schleitheim wurde durch die liebenswürdige Schwiegermutter gelindert. Die kam selbst als Fremde ins Dorf, von Deutschland, nach dem ersten Weltkrieg. «Sie war wie eine Mutter für mich.»
Eins schwor sich Leonarda, als sie selbst Kinder bekam. «Ich werde meine Kinder nie verlassen und wenn ich sie mit Brot und Wasser ernähren muss.» Das musste sie zum Glück nie.