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Kommentar
Kultur
19.03.2025
19.03.2025 08:26 Uhr

Platz der ungeschriebenen regieanweisungen

Serge Honegger ist Kulturreferent des Kanton Schaffhausen.
Serge Honegger ist Kulturreferent des Kanton Schaffhausen. Bild: zVg.
Serge Honegger ist Kulturbeauftragter des Kantons Schaffhausen und schreibt Kolumnen für den «Bock».

Seit vielen Jahren begleitet mich ein Schauspiel von Peter Handke mit dem schönen Titel «Die Stunde da wir nichts voneinander wussten». Niemand spricht in diesem Stück, es werden nur Auftritte, Erscheinungen, Stimmungen und die Bewegungen von rund 120 Figuren auf einem leeren Platz beschrieben.
Weshalb sie von hier nach dort unterwegs sind, warum sie sich auf den Weg gemacht haben, was ihr Antrieb ist, lässt Peter Handke im Dunkeln. Es handelt sich um eine rätselhafte Feier des Lebens auf einem mythischen Platz.

In Schaffhausen gibt es mit dem Herrenacker ebenfalls einen solchen «mythischen» Ort, der trotz seiner modernen Gestaltung zu jeder Tageszeit ein Theater produziert, das von keiner Regisseurin und keinem Choreografen erfunden worden ist. Hier mischen sich die Schatten der Herren, Damen, Geistlichen, Kinder, Bäuerinnen, Handwerker, Söldner, Kaufleute aus früheren Jahrhunderten – und gewiss auch einige Ackergäule, Kälber und Ratten – unter die gegenwärtigen Besucherinnen und Besucher. Zu letzterer Gruppe gehöre auch ich, wenn ich zur Fachstelle Kultur beim Erziehungsdepartement zur Arbeit gehe.
Wir Platzdurchquerenden kommen alle aus verschiedenen Richtungen, schreiben uns der leeren Fläche ein und verschwinden wieder in den Seitengassen oder den Türen der umstehenden Gebäude.

Es braucht ein bisschen Mut, einen solchen Platz wie den Herrenacker einfach Platz sein zu lassen und ihn nicht mit Krimskrams, Schildern oder sonstigen möbelhaften Objekten zuzustellen. Denn der Sog der Leere vermag bei einigen mitunter auch eine Angst zu erzeugen, einen «horror vacui». Das Nichts hat die Kraft, uns Dinge sehen zu lassen, die vielleicht gar nicht da sind: «Fata Morganen» in der flirrenden Hitze des Sommers, weisse Wale zwischen den Wellen eines imaginären Ozeans ...

Für den Schriftsteller Adolf Muschg ist genau an solchen Orten, die sich durch Nicht-Anwesendes auszeichnen, der Ursprung der Kunst anzusiedeln: Sie taucht auf der leeren Leinwand auf, wird vom unbeschriebenen Blatt ins Leben gerufen oder beginnt als bislang ungehörte Musik in der Stille zu klingen. Ein leerer Platz enthält die Möglichkeit für all das, was in Zukunft zur Sprache kommen oder sich künstlerisch materialisieren könnte.

Wenn Sie also das nächste Mal über den Herrenacker in Schaffhausen flanieren oder ein ähnlich offen gelassenes Geviert an einem anderen Ort durchqueren, dann freuen Sie sich über die Leere und das Nichts.
Wie und mit wem Sie unterwegs sind, in welcher Geschwindigkeit, mit welchem Schwung, in Kurven, Drehungen oder Pirouetten – Sie werden gerade ein Theaterstück zur Aufführung gebracht haben, das noch nirgends geschrieben steht, zu dem Sie jedoch in diesem Moment Ihre eigene Regieanweisung erfunden haben.

Schaffhausen24