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Gesundheit
18.02.2025
18.02.2025 09:13 Uhr

«Meine Narben zeigen, was ich schon alles geschafft habe»

Kevin Lang und seine Mutter Doris haben ein inniges Verhältnis. Sie haben viel zusammen durchgemacht. Trotz Schwierigkeiten und Stolpersteinen hadert Kevin nicht mit seinem Schicksal: «Ich kenne es nicht anders.»
Kevin Lang und seine Mutter Doris haben ein inniges Verhältnis. Sie haben viel zusammen durchgemacht. Trotz Schwierigkeiten und Stolpersteinen hadert Kevin nicht mit seinem Schicksal: «Ich kenne es nicht anders.» Bild: Claudia Riedel
Kevin Lang ist 15 Jahre alt und lebt seit Geburt mit einem schweren Herzfehler. Sein Leben ist geprägt von zahlreichen Operationen, Ängsten und Hürden im Alltag. Immer wieder hört er den Satz: «Das darfst du nicht.» Doch Kevin kämpft unermüdlich für ein möglichst normales Leben und hat dabei die volle Unterstützung seiner Familie.

Kevin Lang will 50 Jahre alt werden – mindestens! «Ich schaffe bestimmt auch 55», sagt der Teenager zuversichtlich. Älter werden ist für den 15-Jährigen keine Selbstverständlichkeit. Seit Geburt lebt er mit einem schweren Herzfehler, einer sogenannten Trikuspidalatresie. Äusserlich sieht man Kevin nichts an. Ausser man trifft ihn in der Badi, dann sieht man die grossen Narben auf seinem Brustkorb. Kevin trägt sie mit Stolz: «Sie zeigen, was ich schon alles geschafft habe.» 
Kevins Weg war und ist schwer. Nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie. Mutter Doris Lang erinnert sich zurück: «Wir erfuhren in der 21. Schwangerschaftswoche von Kevins Herzfehler. Die Ärzte fragten direkt, ob wir uns das antun wollen.» Ein Schock. Doch für die Eltern war klar, solange ihr Kind leben will, kämpfen sie. 

Viereinhalb Monate im Spital

Keine fünf Minuten hatte Doris ihren Sohn nach der Geburt auf dem Arm, schon begannen die Untersuchungen. Kevins Herz hatte nur eine Kammer, der Aortenbogen fehlte und musste konstruiert werden. Viereinhalb Monate lag Kevin nach der Geburt im Spital. Seine Mutter war immer an seiner Seite: «Ich blieb bei ihm, weil ich Angst hatte, den Moment zu verpassen, in dem er geht.» Immer wieder hiess es von den Ärzten: «Wir müssen reden.» 
Zu Hause warteten drei ältere Brüder. Der jüngste war damals gerade zwei Jahre alt. Doris Lang: «Wir mussten uns von heute auf morgen komplett neu organisieren. Das funktionierte nur mit Hilfe der Grosseltern.» 
Kevins erste grosse Operation stand an, als er gerade mal vier Tage alt war. Doris Lang: «Das war eine der schlimmsten Phasen.» Über zehn Stunden hätten sie gebangt. Immer wieder seien Ärzte mit ernster Miene vorbeigerannt. «Wir fühlten uns, wie vom Tram überfahren.» Es folgten unzählige weitere Behandlungen und Operationen, mehrmals gingen die Ärzte von geringen Überlebenschancen aus. Doris Lang: «Das erfuhren wir meist erst nach der Behandlung.» 

«Spritzen kann ich kaum sehen»

Kevin kann sich an diese Zeit nicht erinnern, doch sie hat Spuren hinterlassen. Die intensiven Behandlungen haben ihn traumatisiert. «Spritzen kann ich heute noch kaum sehen», sagt der 15-Jährige. Seine Mutter ergänzt: «Manchmal hielten sie Kevin zu zehnt fest, um ihm Blut zu nehmen oder Zugänge zu legen.» Das sei so schrecklich mitanzusehen gewesen, dass auch sie und ihr Mann danach psychologisch betreut werden mussten. 
Zusätzlich zur Sorge um ihren Sohn kamen finanzielle Nöte. Allein die ersten Monate im Familienzimmer im Spital kosteten ein Vermögen. Und die Ausgaben wurden nicht weniger: diverse Therapien, Betreuung, Spielgruppenassistenzen, Lohnausfälle und vieles mehr. «Wir mussten meistens in Vorkasse gehen, lebten lange am Existenzminimum.» Der Druck und die ausweglose Situation trieb Kevins Vater ins Burnout. 

Zu dieser Zeit gab es kaum Anlaufstellen. «Ich glaube, Kevin war das erste so schwer kranke Kind in der Region überhaupt», sagt seine Mutter. Im Kanton Schaffhausen gab es damals noch keine Kinderspitex. Weshalb lange unklar war, ob Kevin überhaupt nach Hause kann. Er brauchte täglich mehrere Stunden professionelle Betreuung. Erst durch den engagierten Einsatz dreier Fachfrauen aus dem Kantonsspital Schaffhausen konnte der Umzug organisiert werden. «Sie unterstützten uns nach ihrer offiziellen Arbeitsschicht. Das war ein grosses Glück», erzählt Doris Lang.

«Wir mussten uns um fast alles selbst kümmern»

Doch Ruhe kehrte nicht ein. Es folgten weitere Operationen – bei denen Komplikationen selten ausblieben. Immer wieder mussten Entscheidungen getroffen werden. Für den Austausch fehlten Ansprechpartner. Doris Lang: «Wir mussten uns um fast alles selbst kümmern. Alle Informationen selbst besorgen, dabei wussten wir gar nicht, wonach wir suchen sollten.»
Darum gründete die Mutter eine Facebook-Gruppe und fand so auf der Welt andere Betroffene. «Das half mir sehr.» Später gelangte sie an den Verein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK). «Hier erhielten wir das erste Mal Infos, wo man sich hinwenden kann.» Heute sind Doris und ihr Mann Ralf im Vorstand von Cerebral Schaffhausen. «Nie wären wir auf die Idee gekommen, dass der Verein etwas für uns ist. Schliesslich sitzt unser Sohn ja nicht im Rollstuhl.»
Kevin bewegt sich gerne, war unter anderem im Schwimmunterricht. Doch auch hier gabs Hürden. Als er seinem Arzt einmal stolz erzählte, dass er schon eine Länge tauchen könne, riss dieser erschrocken die Augen auf: «Tauchen, das darfst du nicht!» Ein Satz, den Kevin oft hörte.  «Du darfst nicht auf den Spielplatz. Du darfst nicht Velo fahren. Du darfst nicht Fussball spielen.» Doris Lang: «Irgendwann fingen wir einfach an, Sachen auszuprobieren.» Es gab ja ohnehin keine gesammelten Infos, was erlaubt ist und was nicht. 
Inzwischen kann Kevin ganz gut selbst entscheiden, was er kann. In seiner Freizeit spielt er Klavier, ist in der Fasnachtsgruppe Räuberzunft, verbringt viel Zeit auf dem Campingplatz und liest gerne Mangas. Er bringt einen dieser japanischen Comics an den Tisch und zeigt auf den ersten Satz im Klappentext: «Denjis grösster Wunsch ist es, ein ganz normales Leben zu führen.» 

Traum von einer Lehre als Koch

Ein normales Leben führen, das möchte auch er. Doch immer wieder steht Kevin vor Barrieren. Wie kürzlich bei der Lehrstellensuche. Der Jugendliche würde gerne in einer Küche mithelfen: «Am liebsten bereite ich Apéro-Häppchen zu.» Er war auch schon schnuppern und hatte eine mündliche Zusage für eine Lehrstelle. Dann hiess es von seinen Ärzten, er sei nur 50 Prozent arbeitsfähig. Das kam für die Familie unerwartet: «Wir wussten nicht, dass er da eingeschränkt ist.» Inzwischen konnte man mit dem möglichen Lehrbetrieb und den Ärzten eine Lösung finden. Ein weiteres Problem: Die IV zahlt erst ab einem Pensum von 80 Prozent, und das Lehrlingsamt muss das Ganze noch absegnen. Doris Lang: «So ist das leider immer. Es ist immer kompliziert und es gibt immer etwas abzuklären.» 

Nächster Spitaltermin steht

Für Kevin steht bald wieder eine Herzkatheter-Untersuchung an. Bei dieser Kontrolluntersuchung wird ein Schlauch von der Leiste oder dem Arm bis zum Herzen geschoben. Ein Termin, über den der 15-Jährige nicht reden mag. Mit seinem Schicksal hadert er indes nicht: «Ich kenne es nicht anders.» Bei seinen Eltern schwingt die Sorge um ihren Sohn immer mit. Doch inzwischen haben sie gelernt, es vorzu zu nehmen. Anders geht es ohnehin nicht. 

Tipp: Am 28. Februar organisiert der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK) ein Wissen-Forum. Die Veranstaltung in Basel ist ab 11 Uhr auch über Livestream zu verfolgen.

 Mehr Informationen unter: kmsk.ch 

Claudia Riedel