Dorothea Müller Stamm und Ariadne Brill sitzen in einem ihrer Beratungszimmer in der Oberstadt. Hinter ihnen ein Räuber, eine Prinzessin und ein Zauberer vom Kasperlitheater. Gegenüber stehen Regale voller Schleichfiguren. Es ist ein Ort, der Kindern und Eltern Geborgenheit vermitteln und Raum für Lösungsansätze bieten soll.
«Bock»: Machen sich Eltern heute mehr Sorgen als früher?
Ariadne Brill: Eltern wollen es einfach gut machen. Sich zu sorgen, ist ein Teil des Elternsein und kann ein guter Begleiter sein, um Veränderung zu schaffen.
Man hört immer wieder, Erziehung sei schwieriger geworden.
Dorothea Müller Stamm: Ich glaube nicht, dass Erziehung grundsätzlich schwieriger geworden ist. Vielmehr haben sich die Themen verschoben, und die Erwartungen an Eltern und weitere Bezugspersonen sind gestiegen.
Inwiefern?
Müller Stamm: Ein Beispiel ist die Doppelbelastung von Eltern, insbesondere von zunehmend berufstätigen Müttern, die es früher in dieser Form kaum gab. Ausserdem wird das Verhalten von Kindern oder Eltern heute viel schneller kommentiert und analysiert, was zusätzlich Druck aufbauen kann.
Brill: Wir begegnen oft erschöpften Eltern, die glauben, den Anforderungen nicht gerecht zu werden. Dabei geht es nicht darum, eine Checkliste abzuarbeiten, um eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein.
Heute haben wir einen grossen und schnellen Zugang zu Erziehungs- und Entwicklungsratgebern. Ein Vorteil?
Müller Stamm: Nicht unbedingt. Die Fülle an Informationen kann Eltern auch verunsichern oder führt dazu, dass sie sich auf gerade angesagte Themen fixieren. Wenn etwa über ADHS oder Hochsensibilität geschrieben wird, ohne eine kritische Betrachtung, können Eltern schnell denken: «Mein Kind hat das auch.»
Brill: Online findet man oft genau die Bestätigung, die man sucht – das kann elterliche Sorgen beruhigen oder sie weiter verstärken.
Welches sind heute die grossen Themen in der Beratung?
Müller Stamm: Es ist eine breite Palette von grossen und kleinen Sorgen. Mein Kind ist wütend. Mein Kind hat immer noch Windeln. Es geht um Geschwisterkonflikte oder das Setzen von Grenzen. Auch die Digitalisierung ist sicher ein Thema. Die Medienerziehung ist heute viel komplexer als früher. Generell spüren wir auch eine Verunsicherung in der Gesellschaft – bedingt zum Beispiel durch Kriege oder die Klimakrise. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist es, Zuversicht und Hoffnung zu stärken.
Hat der gesellschaftliche Wandel die Entwicklung der Kinder verändert?
Brill: Das Leben ist schneller geworden. Doch die Entwicklung eines Kindes folgt ihrem eigenen Tempo. Das war schon immer so. Wir können die Entwicklung unterstützen, aber nicht beschleunigen. Kindern fehlt heute oft die Zeit für entspanntes, ungestörtes Spielen.
Müller Stamm: Der berühmte Satz von Remo Largo: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht», ist nach wie vor sehr treffend. Wir sind in einer Optimierungsgesellschaft. Es muss alles zügig vorangehen. Aber es braucht auch, aushalten zu können, wenn es nicht perfekt läuft.
Gefühlt läuft immer etwas. Freizeitangebote für Kinder nehmen stetig zu.
Müller Stamm: Viele glauben, dass gute Eltern ihre Kinder mit möglichst vielen Hobbys und Aktivitäten beschäftigen müssen. Dabei sollten Kinder die Freiheit haben, ihre eigenen Interessen zu entdecken und in ihrem Tempo auszuüben. Während das eine Kind seinen fünf Hobbys voller Elan nachgeht, ist dem gleichaltrigen Gspändli vielleicht schon ein Hobby zu viel.
Brill: Kinder dürfen und sollen sich individuell entfalten. Wir sollten sie nicht ständig vergleichen.
Wie oft machen Eltern in der Erziehung etwas falsch?
Brill: Wir wollen einen Raum schaffen, der für alle passt. In der Beratung soll es nicht darum gehen Schuldige zu suchen, sondern vielmehr darum, gemeinsam mögliche Ursachen zu reflektieren und Lösungen zu entwickeln.
Müller Stamm: Einen Daumen hoch oder runter gibt es bei uns nicht. Sollten wir allerdings den Eindruck haben, ein Kind ist gefährdet, sei es durch Gewalt oder eine ungenügende Versorgung, dann sprechen wir das konkret an.
Nehmen Eltern heute rascher psychologische Unterstützung an?
Müller Stamm: Heute ist man sicher näher am fachlichen Angebot und weiss, wo man sich austauschen und informieren kann. Früher wurde eher weniger schnell eine psychologische Unterstützung aufgesucht.
Brill: Und man spricht offener darüber. Viele Eltern kommen, weil sie jemanden kennen, der auch schon bei uns war. Manchmal hat ein Elternteil auch noch Vorbehalte gegenüber der Beratung. Umso schöner ist es dann, wenn die Beratung genau diesen Elternteil weiterbringt.
Was motiviert Sie persönlich, in diesem Bereich zu arbeiten?
Müller Stamm: Die Kinder und deren Entwicklung sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Durch meine Arbeit kann ich sie unterstützen und stärken. Das empfinde ich als sehr sinnhaft. Manchmal kommen Eltern in die Beratung mit der Absicht: «Hier ist mein Kind. Bitte ‹reparieren› Sie es.» Wenn ich dann sehe, wie Eltern und Kind in ein Miteinander kommen, dann sind das meine persönlichen Sternstunden.
Brill: Für mich geht es darum, Eltern und Kinder in ihrer Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, zu unterstützen – um sowohl gute als auch schwierige Momente zu meistern. Denn beides gehört zum Leben.
Ein Ratschlag, den Sie Eltern mit auf den Weg geben möchten?
Müller Stamm: Vertrauen in eigene Stärken, Leichtigkeit und Zuversicht sind wichtige Begleiter im Erziehungsalltag. Es kann den Familienalltag erleichtern, mit Gelassenheit auf das Leben zu schauen und den Fokus bewusster auf die schönen Momente zu legen. Und je schneller man bei Problemen Hilfe in Anspruch nimmt, desto höher ist die Chance, diese zieldienlich zu lösen.
Brill: Genau. Es ist oft besser, Fragen zu stellen, als Sorgen dauerhaft im Rucksack mit sich herumzutragen. Beziehung und Bindung sollten im Mittelpunkt stehen.