An schlimmen Tagen sind es bis zu 45 Toilettengänge. An normalen Tagen muss Gabi Krüsi alle anderthalb bis zwei Stunden aufs Klo – auch in der Nacht. «Manchmal habe ich mich kaum zugedeckt, schon muss ich wieder aufstehen.» Die 71-Jährige leidet an einer chronischen Blasenerkrankung, einer sogenannten interstitiellen Zystitis. «Es fühlt sich an, wie eine bakterielle Blasenentzündung, die nie endet.» Sie spürt einen andauernden stechenden Schmerz, es brennt beim Wasserlassen und wenn sie den Toilettengang rausschiebt, schmerzt ihr ganzes Becken. Und das seit bald 30 Jahren! Das Fatale: Wenn sich die Blase meldet, muss Gabi Krüsi im Sitzen Wasser lösen. Inkontinenzeinlagen helfen ihr also nicht, obwohl sie sich immer entsprechend schützt.
Therapien hat sie über die Jahre schon viele ausprobiert. Es gab diverse Biopsien, es wurden Botox oder Hyaluron in die Blase gespritzt, die Blase wurde gedehnt, künstlich gefüllt mit Kaltwasser, Warmwasser und Eiswasser. «Da hatte ich so schlimme Schmerzen, das wünsche ich keinem.» An Antibiotika hat sie praktisch alles ausprobiert, was es auf dem Markt gibt. «Manchmal kam ich mir vor wie ein Versuchskaninchen.» Rausgefunden wurde nicht viel. «Je mehr man an der Blase rumbastelte, desto mehr Infekte hatte ich.» Es wurde auch schon diskutiert, die Blase zu entfernen. «Weil mir aber kein Arzt sagen konnte, dass damit auch meine Schmerzen verschwinden würden, habe ich mich bisher dagegen entschieden.»
Ewiges Hin und Her
Die dauernden WC-Gänge rauben Gabi Krüsi nicht nur den Schlaf, sondern bedeuten im Alltag Stress pur. «Ständig frage ich mich: ‹Langets mer?›»
Wenn sie einen Termin hat, muss die zweifache Mutter mindestens eine halbe Stunde mehr einplanen. «Falls die Blase blöd tut und ich unerwartet aus dem Bus aussteigen muss.» Aber auch wenn sie zeitlich nicht gebunden ist, kann es stressig werden. Wie letztes Mal, als sie in der Stadt war und noch schnell ein Brot holen wollte, bevor es auf den Bus nach Löhningen ging. «Kurz vor dem Laden hat sich meine Blase gemeldet.» Also hat sie ein öffentliches Klo aufgesucht und das Brot erst danach gekauft. Doch gleich nach dem Einkauf musste sie nochmals aufs Klo. «Darum habe ich dann den Bus verpasst und musste eine halbe Stunde auf den nächsten warten.»
In den stehenden Zug springen
Ein grosses Problem: Es hat zu wenige öffentliche Toiletten und die, die es gibt, sind nicht immer sauber. Schon jetzt muss Gabi Krüsi tricksen, damit es aufgeht. Wenn sie auf den Überlandbus ins Klettgau muss, springt sie kurz vorher noch in den Zug nach Kreuzlingen. «Der steht dann sechs Minuten auf Gleis 1 und ich weiss genau, wo die Zugstoilette ist.»
Sie hat immer Münzen in der Tasche und für das Klo der SBB ein Bezahlkärtli. «Das hat aber letztes Mal nicht funktioniert, dann steigt der Druck.» Am schlimmsten sei es, wenn Klos, die sie fest einrechnet, ausser Betrieb seien. Dann müsse sie in Restaurants nachfragen, ob sie husch die Toilette benützen dürfe, auch wenn sie nichts konsumiere. «Ich will ja nicht jedes Mal einkehren.» Das koste sie aber schon Überwindung. «Meist sind die Leute zwar nett und ich lege dann einfach einen Zweifränkler auf die Theke.»
Sitzplatz ganz am Rand
Die Seniorin wäre gerne mehr unterwegs, hat viele Interessen. «Aber manchmal kostet es mich zu viel Kraft. Ich fühle mich nicht frei», sagt sie. «Trotzdem habe ich jetzt meinen Mut zusammengenommen und mir ein Abo fürs Stadttheater gekauft», sagt Gabi Krüsi. Natürlich hat sie einen Sitzplatz ganz am Rand genommen. «Damit ich in der Pause schnell aufstehen kann und keinen störe, wenn es mal nicht bis zur Pause reicht.» Am Gang zu sitzen, findet nicht jeder gut, darum geht sie davon aus, dass sie viele Theaterbesuche allein macht. Denn sie will sich nicht aufdrängen. «Wer mit mir unterwegs ist, muss flexibel sein.» Gabi Krüsi sass auch schon nach einem Ausflug mit einer Freundin im Zug und musste merken, dass die Bordtoilette defekt war. «Darum musste ich dann beim nächsten Bahnhof raus und ein Klo suchen.» Die Freundin sei damals mitausgestiegen, obwohl sie ihr noch gesagt hätte, sie solle doch sitzenbleiben. «Das fand ich wirklich sehr schön.» Denn die Regel sei das nicht. Nicht immer haben die Leute Verständnis für ihr Problem. Gabi Krüsi ist enttäuscht und traurig, dass sie von vielen Ärzten und auch von der Familie oft nicht ernst genommen wurde. «Eine Ärztin sagte mal zu mir, ich solle anständig mein Füdli putzen.» Solche Sätze hätten sie verändert. «Ich habe schon etwas das Vertrauen in die Menschen verloren.» Darum hofft sie ganz fest, dass sie die Krankheit nicht an ihre beiden Töchter weitergegeben hat. «Ich möchte nicht, dass sie das gleiche durchmachen müssen wie ich.»
Cranberrysaft und Blasentee
Und auch die Hoffnung, dass die Medizin weiter Fortschritte macht, hat sie noch nicht aufgegeben. Bis es so weit ist, trinkt sie weiter Blasentee und Cranberrysaft, zieht ihre Strümpfe und das Unterleibchen an. «Wenns nicht hilft, so schadets nicht!» Und hat immer einen Plan im Kopf, wo sie als nächstes auf die Toilette kann.