Wer bei Familie Rambone ins Haus geht, spürt es sofort. Hier steckt viel Amore drin. Gleichzeitig ist da diese Last. Man spürt sie nicht nur dann, wenn Mama Vittoria Rambone im Gespräch eine Träne aus dem Auge wischt. Aber die Familie ist stark und ihr Zusammenhalt noch stärker.
Die Krankheit der 1000 Gesichter
Oben am Tisch sitzt Papa Crescenzo Rambone. Er sitzt im Rollstuhl. Schon viele Jahre. Mit 40 bekam er die Diagnose Multiple Sklerose (MS) – auch genannt «die Krankheit der 1000 Gesichter», am 66-Jährigen zeigt sie eines ihrer hässlichsten. Oder wie Papa Rambone es formuliert: «La malatia e una brutta bestia.»
Mit am Tisch sind auch die Tochter Vanessa Rambone und die Schwägerin Maria Cerjek. Auch sie beide haben MS, doch ihnen sieht man die Krankheit nicht sofort an. Das macht es auch nicht besser, wie sie uns im 2. Teil dieser Geschichte erzählen werden.
Wenn die beiden Frauen ihre Symptome schildern, lächelt Crescenzo Rambone nur müde. Die tauben Finger, die Gefühlsstörungen in den Beinen, die Sichtprobleme und die vielen Abklärungen bei den Ärzten, er kennt sie alle. «Ich habe schon so viel durchgemacht, ich könnte ein Buch schreiben.» Inzwischen ist er 24 Stunden am Tag auf Hilfe angewiesen. Beim Trinken. Beim Essen. Beim Schlafen. Immer.
Doch er sagt: «Ich habe keine Schwierigkeiten im Alltag, ich habe meine Vittoria.» Seine Frau streichelt ihm sanft die Hand und tupft ihm mit einem Tuch den Schweiss von der Stirn. Crescenzo Rambone weiss es zu schätzen. Zehn- bis fünfzehnmal am Tag muss ihn seine Frau hochheben. «Auch wenn ich nicht der Schwerste bin, das ist eine grosse Leistung.» In der Nacht wendet sie ihn regelmässig, damit er am Körper keine Druckstellen bekommt. Er sage dann immer: «Vittoria, girare per favore.» Auch wenn es das «Bitte» nicht bräuchte. Seine Frau nickt. «Er würde für mich das gleiche tun.» Sie hat alles mit ihrem Mann durchgemacht und ist Schritt für Schritt in die Situation und das Leben mit MS hineingewachsen. Auch wenn sie es nicht am eigenen Körper spürt, sie kennt sich aus mit der Krankheit.
Als ihre Schwester ebenfalls an MS erkrankte, habe sie es schon lange vor der Diagnose gewusst. «Ich habe die Symptome erkannt», erzählt sie. Doch als dann auch noch ihre Tochter die Diagnose erhielt, war es ein Schock. «Gerade weil ich mich so gut damit auskenne.» Innerlich sei sie deswegen immer etwas angespannt. Sie mache sich Sorgen um ihre Tochter, aber natürlich auch um deren Kinder und Partner. «Wenn man ein Familienmitglied pflegt, muss alles zusammenstimmen», sagt sie. Denn es sei bei aller Liebe nicht immer einfach: «Eine Krankheit verändert einen Menschen. Man reagiert anders, wenn man Schmerzen hat.» Es brauche ein starkes Fundament, um das auszuhalten.
Nicht der Typ, der jammert
Crescenzo Rambone hört zu und schaut derweil zu seiner Tochter: «Es tut mir leid, Vanessa, dass ich dich angesteckt habe.» Die Tochter lächelt ihn liebevoll an. «Papi, du kannst doch nichts dafür!» Sie hegt auch keinen Groll, dass nur sie es hat und ihre beiden Brüder nicht. «Dafür verstehe ich meinen Papi sehr viel besser, wenn es ihm nicht gut geht».
Aber Crescenzo Rambone ist nicht der Typ, der jammert. Im Gegenteil: Der Schalk blitzt aus seinen Augen, wenn er von seinem Lieblings-Fussballverein, dem AC Milan, spricht: «Forza Milan!» oder von den Ferien in seiner alten Heimat Neapel.
Ein Nonno, der Zeit für die Enkel hat
Das Allerwichtigste ist ihm aber die Familie. Er ist stolz auf seine drei Kinder und seine drei Enkel. «Sie kennen mich halt nur sitzend», fügt er an. Trotzdem sei er ein wunderbarer Nonno, wirft seine Tochter ein. «Er ist fast täglich mit meinem Sohn mit dem Elektromobil unterwegs.» Auch für Wasserschlachten sei er zu haben. «Da muss Papi dann einfach hinhalten», lacht Vanessa Rambone. Das sei der schöne Aspekt der Krankheit. «Meine Kinder haben Grosseltern, die viel Zeit mit ihnen verbringen.» Die Ablenkung tut auch dem Nonno gut. Mit der Krankheit wurde sein Leben auf links gedreht. Früher war er ständig unterwegs, hat sich mit Freunden getroffen, war im italienischen Club. Heute kann er nicht einmal mehr Karten spielen. «Ich kann die Karten nicht mehr selbst halten.» Es würden auch nicht mehr viele Freunde vorbeikommen, mit denen er spielen könnte. Tochter Vanessa regt sich auf: «Wo sind denn all die Kollegen von früher? Wieso kommen sie nicht einfach auf einen Kaffee vorbei, das würde Papi so guttun!»
Doch Crescenzo Rambone zeigt Verständnis: «Sie haben ihre Leben, ich kann das akzeptieren.» Im Akzeptieren ist er mittlerweile sehr gut. «Das gehört bei der Krankheit dazu.»
«La testa funziona!»
Sein Geist ist wach. Er weiss alle Jahreszahlen sofort, kennt die Antwort auf jede Frage. «La testa funziona!» Der Kopf funktioniert – das ist ja das Gemeine. Nur der Körper macht nicht mehr mit. Wenn seine Tochter die Blumen für ihn eintopft, muss er hinnehmen, wie sie es macht. «Auch wenn ich eigentlich wüsste, wie’s besser geht.» Nur etwas kann er nicht akzeptieren: die Schmerzen. Er kann sie nur bedingt, mit Medikamenten, eindämmen. «Ansonsten läge ich betäubt im Bett.» Das will er nicht. Crescenzo Rambone will am Leben teilhaben. So gut es eben geht. «Wenn ich im Stadion einen Match des FC Schaffhausen schauen kann, ist mir das sehr viel wert.» Er will mit seiner Frau in die Ferien fliegen, mit seinen Enkeln spielen und die Hochzeit seines jüngsten Sohnes noch miterleben. «Das habe ich meiner Frau immer gesagt, ich will alle drei Kinder heiraten sehen, dann kann ich gehen.» Sein jüngster Sohn ist mittlerweile 27 Jahre alt. Darum ergänzt Crescenzo Rambone: «Vielleicht warte ich auch besser noch die Hochzeit meiner Enkel ab.»
In Teil 2 in der nächsten Ausgabe des «Bock» lesen Sie, wie unberechenbar der Verlauf von MS sein kann und wer hinter der «bösen Ruth» steckt.