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Gast-Kommentar
Politik
01.04.2024

Als Gemeinsinn getarnter Individualismus

Nina Schärrer schreibt in ihrer neusten Kolumne über getarnten Individualismus.
Nina Schärrer schreibt in ihrer neusten Kolumne über getarnten Individualismus. Bild: zVg.
In der aktuellen Kolumne schreibt Nina Schärrer über den als Gemeinsinn getarnten Individualismus.

In Schaffhausen treffen gerade die besten Curler der Welt aufeinander. Was das mit Politik zu tun hat? Eigentlich nichts. Und doch ganz viel. Denn Curlingsteine, die taktisch wohlüberlegt losgeschickt werden, die mal mit viel Schwung andere Steine vom Eis fegen, die sich ein andermal langsam und unauffällig zwischen anderen durchschlängeln – diese Curlingsteine sind für mich sportgewordene Politik. Im Idealfall schafft es ein Team, mit seinen Steinen ein stabiles System aufzubauen, das seinen Kern gegen gegnerische Angriffe schützt.

Lange Zeit hat sich die Schweiz für mich wie ein solches stabiles System angefühlt. Wir sind dank liberaler und unternehmerfreundlicher Gesetze wirtschaftlich erfolgreich. Die so generierten Steuereinnahmen ermöglichen uns hohe Bildungsstandards, soziale Sicherheit und moderne Infrastrukturen.

Doch die Schweizer Curlingsteine sind verrutscht; unser Abwehrsystem ist geschwächt. Denn in der Bevölkerung hat ein gefährliches Umdenken stattgefunden. Dieses ist eng verknüpft mit der Coronapandemie sowie der Rettung respektive Übernahme unserer beiden Grossbanken. Denn irrationalerweise hat die finanzielle Sicherheit, welche der Bund der Schweizer Bevölkerung und Wirtschaft in diesen Krisenzeiten garantiert hat, nicht dazu geführt, dass wir den Bundesfinanzen künftig noch stärker Sorge tragen. Im Gegenteil: In grossen Teilen der Bevölkerung ist die Anspruchshaltung immens gestiegen. Frei nach dem Motto: Wenn dafür Geld da war, dann jetzt auch für mich. Dass Firmen ihre Coronakredite zurückzahlen müssen und dass der Bund schlussendlich keinen einzigen Franken für die beiden Grossbanken ausgeben musste, wird dabei gekonnt ignoriert.

Als Gemeinsinn getarnter Individualismus macht sich breit. Der neuste Spielzug: die Annahme der 13. AHV-Rente. Obwohl hier mehrere Milliarden Franken mit der Giesskanne verteilt werden, statt gezielt die Bezüger von Tiefstrenten zu entlasten, wurde die Initiative deutlich angenommen. Im Einzelgespräch wird schnell klar weshalb: Man wollte selbst «auch endlich mal etwas bekommen». Egal, ob man das Geld wirklich braucht oder nicht. Denn «jetzt bin ich dran.»

Der nächste teure Stein wird bereits im Juni übers Eis geschoben: Die Prämienentlastungsinitiative kostet uns bei Annahme jährlich 9 Milliarden Franken. Und weitere folgen garantiert. Vielleicht in Form von gratis ÖV und Kinderbetreuung für alle oder als 4-Tage-Woche bei gleichbleibendem Lohn? Wir dürfen gespannt sein.

Diese zunehmende Anspruchshaltung gegenüber dem Staat verdeutlicht, dass viele sich zunehmend als untergeordneter Teil eines Ganzen sehen – zunehmend sogar als Opfer, angewiesen auf die Hilfe des Staates. Ich sehe uns alle aber anders: Ich sehe uns als selbstbestimmte Bürger, die ihr Leben unabhängig gestalten können, aber im Gegenzug auch Selbstverantwortung tragen. Und zu dieser Selbstverantwortung gehört es auch, sich Herausforderungen zu stellen, wie aktuell der Teuerung. Wir alle – auch ich – müssen wieder lernen, zu verzichten und uns einzuschränken. Wir haben von einem ständigen Wirtschaftsaufschwung profitiert. Doch der Wind hat gedreht und auch die Schweiz steht international neuen Herausforderungen und Bedrohungen gegenüber. In dieser Situation ist es verheerend, wenn wir uns jeglicher ungemütlichen Realität verweigern und vom Staat fordern, dass er den Lebensstandard jedes Einzelnen erhalten müsse. Der Erfolg der Schweiz beruht auf guten Ideen, vollem Einsatz und Gemeinsinn. Als Gemeinsinn getarnter Individualismus, der den Staat Milliarden kostet, ist das Gegenteil. So verlieren wir das Spiel.

Schaffhausen24