In den letzten Jahren wurde vermehrt gemeldet, dass junge Frauen und Männer immer mehr mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Auch wenn das manchmal verharmlost oder unterschätzt wird: Die Pandemiejahre trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass die Anforderungen an Heranwachsende zugenommen haben. Das bestätigt auch Jan-Christoph Schaefer, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst (KJPD), auf Anfrage des «Bock»: «Die psychische Belastung der jungen Erwachsenen von 15 bis 24 Jahren hat überdurchschnittlich zugenommen, wie es im aktuellen Bericht des Gesundheitsobservatoriums 2022 heisst. Die Belastung bei jungen Frauen ist insgesamt noch etwas höher als bei männlichen Adoleszenten», erklärt der Chefarzt und ergänzt, dass sich das lokale Bild im gesamtschweizerischen Vergleich widerspiegle, auch wenn es keine Übersichtsstatistik des Kantons Schaffhausen gebe. «Verschiedene Studien belegen, dass die zunehmende Verunsicherung bei Jugendlichen in einem zeitlichen Kontext mit der Pandemie und den aktuellen mannigfaltigen globalen Krisen steht. Die Zunahme der psychischen Belastung ist praktisch in allen westlichen Kulturen deutlich festzustellen», fährt Jan-Christoph Schaefer fort.
Bis vor Kurzem Tabuthema
Unsere Psyche ist der täglichen Belastung ausgesetzt. Nebst der Tagesform bestimmen viele Faktoren über das eigene Wohlergehen. Hoher Erwartungsdruck in Schule und Studium, Überbelastung bei der Arbeit, der freie Fall ins Burn-out, posttraumatische Belastungsstörungen, Existenzängste, Überreizung durch Social Media, die ständige Erreichbarkeit: Menschen jeden Alters stossen an ihre Grenzen. Was du gestern geleistet hast, zählt heute nicht mehr. Damit wird auch GLP Kantonsrat Tim Bucher immer wieder konfrontiert. «Der Leistungsdruck nimmt laufend zu», stellt auch er fest und fährt fort: «Das führt dazu, dass Psychiatrien oder Fachstellen völlig überbucht sind und Betroffene unendlich lange auf einen Therapieplatz warten.» Bei den Jungen werde das Kernthema rund um den psychischen Druck immer mehr zum Dauerbrenner. Seitens der Älteren steht immer wieder der Vorwurf im Raum, die jüngste Generation sei arbeitsfaul oder zu verweichlicht. «Die Welt hat sich so stark verändert und dreht sich viel schneller als früher», entgegnet Tim Bucher. Bis in die 90er-Jahre galt eine psychische Erkrankung als gesellschaftliches Tabuthema, schliesslich wollte man ja nicht zu den «Gestörten» zählen. Manche Personen bekamen den drohenden Satz, dass das «gääle Wägeli» sie abholen komme, um die Ohren geschlagen. «Früher blieb die Arbeit in der Firma. Mit der dauerhaften Erreichbarkeit nehmen viele den Job mit nach Hause, ans Familienfest oder in den Urlaub», konstatiert der Jungpolitiker. Darum strebt die junge Generation vermehrt Off-Zeiten an, was dann wunderschön als «Work-Life-Balance» verpackt wird.
Leitfaden fehlt
Die Modernisierung lässt sich natürlich nicht aufhalten, Druck lässt sich nicht einfach abbauen. Darum ist auch wichtig, dass die Rahmenbedingungen gegeben sind, um Abhilfe zu schaffen, wenn eine Person tatsächlich vor dem psychischen Zusammenbruch steht. «Jeder zweite Mensch erleidet im Leben eine Depression, nicht wenige davon brauchen professionelle Unterstützung», erklärt Tim Bucher. Was in Schaffhausen fehle, seien geregelte Strukturen. Bei einem Beinbruch ist die Abfolge klar: Krankenwagen, Operation, Beinschiene, Reha, Physiotherapie, falls nötig Metallentfernung, Genesung. «Jedes Kind weiss sich zu verarzten, wenn es sich eine Schürfwunde zugezogen hat. Doch wer weiss, was zu tun ist, wenn man in eine Depressionen fällt? Praktisch niemand. Darum braucht es schon in der Schule Aufklärung», fordert Tim Bucher. Wie sieht denn die Praxis in Schaffhausen aus? «Am KJPD ist das Angebot so ausgerichtet, dass individuell auf die Anliegen der Kinder, Jugendlichen und Familien eingegangen wird», erklärt Jan-Christoph Schaefer. «Im Rahmen der therapeutischen Arbeiten wird eine breite Palette an diagnostischen und behandlungsbezogenen Vorgehensweisen angeboten», so der Chefarzt. Damit gemeint sind Einzel-, Familien- und Gruppentherapieangebote, medikamentöse Therapie und seit Neustem auch ein tagesklinisches Angebot in Zusammenarbeit mit der Stadtrandschule des Atelier A.
650 Anrufe pro Jahr
Um derzeit einen Therapieplatz zu erhalten, ist Geduld gefragt. Rund 650 Anrufe von Behandlungs- und Beratungssuchenden nimmt das KJPD jährlich entgegen. Tendenz steigend. Nach der Kontaktaufnahme erfolgt eine umgehende individuelle Beratung. Für eine Abklärung dauert es je nach Fall normalerweise zwischen zwei und vier Wochen. Notfälle werden sofort behandelt, wie das KJPD mitteilt. Auch die Erwachsenenpsychiatrie biete für junge Erwachsene sofortige Hilfe über die Kriseninterventionsstelle (KiSH). Dies ruft Kantonsrat Tim Bucher auf den Plan, der eine Überprüfung der Ressourcen und gegebenenfalls Optimierungen fordert. Das bestätigt auch Jan-Christoph Schaefer. Zusammen mit Parteikollege Ulrich Böhni und Corinne Ullmann von der SVP reichte Tim Bucher am 25. September zwei Postulate ein. In einem der Postulate wird gefordert, dass der Kanton spezifische Angebote für die Altersklasse 16 bis 25 Jahre anbieten soll, da es solche für die adoleszente Zielgruppe nicht gebe, wie etwa in anderen Kantonen.
60 Prozent der Fachkräfte vor Pension
Der zweite Vorstoss verlangt eine ganzheitliche, mittel- bis langfristige Strategie zur Sicherstellung der psychischen Gesundheit im Kanton Schaffhausen. Darin wird auch angegeben, dass man gar mit einer Wartezeit von bis zu sieben Wochen rechnen müsse, bis stationäre Massnahmen getroffen werden. «Im Kanton Schaffhausen manifestieren sich im Bereich der psychischen Gesundheit an zahlreichen Orten äusserst besorgniserregende und kritische Zustände. Deshalb muss zuallererst eine bisher fehlende strategische Grundlage mit umfassendem Massnahmenpaket her, um das Thema auf verschiedenen Ebenen anzugehen. Das fängt bei der Aufklärung in der Schule an, geht über zur verstärkten Ansiedelung von Therapeut:innen bis hin zu einer optimalen und zeitnahen Behandlung.» erklärt Tim Bucher, der aufgrund vieler Gespräche mit Fachpersonen weiss, dass Schaffhausen nicht «the place to be» ist, um eine Praxis zu eröffnen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die Gehälter gegenüber anderen Kantonen kaum konkurrenzfähig sind. Doch auch der Fachkräftemangel sei in ganz Europa zu spüren, darum brauche es dringend nachhaltige Strukturen, um dem entgegenzuwirken. «Wichtig ist ebenso, bei der Früherkennung anzusetzen», ergänzt der Kantonsrat, um das drohende Nadelöhr künftig abfedern zu können. Besonders prekär ist der Therapeut:innenmangel in Schaffhausen. Der Schaffhauser Psychotherapeut:innen-Verband verliert innerhalb der kommenden fünf Jahre 60 Prozent (!) seiner Fachkräfte infolge Pensionierung. Gerade mal vier Mitglieder sind unter 50 Jahre alt. Und heute schon klagen Patient:innen über fehlendes Fachpersonal und lange Wartefristen. Die Zahl der Behandlungen hat allerdings seit 1997 um 50 Prozent zugenommen. Ein Anstieg von 182 Prozent an akuten Fällen, bei denen sich junge Menschen etwas antun wollen, ist während den letzten vier Jahren verzeichnet worden, wie im ersten Postulat beschrieben wird