Schule ist mehr als nur ein Ort der reinen Wissensvermittlung. Sie steht für Alltag und Normalität und fördert die Persönlichkeitsentwicklung. Jungen Menschen mit Krebs gibt der Unterricht in vertrauter Umgebung ein Gefühl der Stabilität und Zugehörigkeit, macht Hoffnung auf ein Leben nach dem Krebs und wirkt sich dadurch positiv auf ihr seelisches Wohlbefinden und den Heilungsprozess aus. Dabei spielen insbesondere Freundschaften im schulischen Kontext eine bedeutsame Rolle. Gelingt die Rückkehr in die Schule nicht, können abgebrochene Schullaufbahnen, unerfüllte Berufswünsche und psychosoziale Folgen, wie Angstzustände, Depressionen und Vereinsamung die Folge sein. «Mangelnde Kenntnisse über die Krankheit und deren zum Teil massiven Spätfolgen sowie fehlende klare Richtlinien, damit krebskranke Kinder den Anschluss nicht verlieren und gleichberechtigte Bildungschancen erhalten, können die Zukunftsperspektiven der Betroffenen erheblich beeinträchtigen», so Valérie Braidi-Ketter, CEO von Kinderkrebs Schweiz.
Schulische Integration ist Glückssache
Die meisten Schulen zeigen in der Anfangsphase der Erkrankung eine hohe Bereitschaft, die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu unterstützen. Mit der Zeit lässt das Verständnis für deren besondere Situation jedoch häufig nach. Parallel dazu steigt das Risiko für die Betroffenen nicht nur den Anschluss an den Schulstoff, sondern vor allem auch an ihr soziales Beziehungsnetz zu verlieren. «Je länger die Krankheit und die damit verbundenen Absenzen dauern und je schwächer die Bindung zwischen dem Kind, den Lehrpersonen und der Klasse wird, desto mehr lässt die Unterstützung nach», erklärt die Fachpsychologin für Neuropsychologie Barbara Kohler. Vielfach wissen die Lehrpersonen nicht, dass die Krankheit und die Therapie in zwei Drittel aller Fälle Spätfolgen hinterlassen kann, die manchmal erst Jahre später auftreten können. Hinzu kommt, dass manche Spätfolgen, wie zum Beispiel chronische Müdigkeit, Aufmerksamkeit- und Konzentrationsprobleme oder eine verminderte Merkfähigkeit nicht immer auf den ersten Blick sichtbar sind. Laut Kohler, die am Inselspital Bern Kinder und Jugendliche während und nach einer Krebserkrankung betreut, variiert die Situation von Schule zu Schule und von Kanton zu Kanton. «Ob die Integration gelingt, ist reine Glückssache. Sie steht und fällt mit dem Engagement der Schule. Gäbe es jedoch neben der Schulpflicht auch eine Integrationspflicht, sähe die Situation sicherlich anders aus», so die Exper-tin.
Krebskranke Kinder und ihre Eltern fühlen sich im Stich gelassen
Obwohl Kinder mit einem erhöhten Förderbedarf grundsätzlich das Recht auf eine adäquate, individuelle Förderung haben, fühlen sich Eltern und Kinder im Schulalltag häufig mit ihren Problemen alleingelassen. Das berichtet auch Camilla Adby, deren achtjähriger Sohn aufgrund der intensiven Chemotherapie Spätfolgen davongetragen hat. «Oscars Spätfolgen haben die Schule einfach nicht interessiert», so die Mutter. Häufig wissen die betroffenen Eltern nicht, welche Rechte sie haben und wohin sie sich wenden können, wenn das Kind einen speziellen Förderbedarf hat. Zwar sind nicht alle krebskranken Kinder und Jugendlichen in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt und benötigen eine spezielle Unterstützung. Bei denjenigen Schülern jedoch, die aufgrund der Therapie und der Spätfolgen einen besonderen Förderbedarf haben, sind die Lehrpersonen umso stärker gefragt. Denn sie spielen eine Schlüsselrolle bei der schulischen Integration. In Bezug auf die Krankheit mangelt es in der Praxis jedoch häufig an Informationen sowie an Unterstützung und Ausbildungen im Umgang mit den betroffenen Schülern. Um sie bei dieser Aufgabe zu unterstützen, bräuchte es dringend mehr Aufklärung über die Krankheit, adäquate pädagogische Hilfsmittel und Ressourcen sowie generell eine engere Zusammenarbeit aller Beteiligten.
Gleichberechtigte Bildungschancen für krebskranke Kinder
Internationale Studien belegen die Wichtigkeit der schulischen Integration für krebskranke Kinder und Jugendliche. In der Praxis zeichnet sich in der Schweiz jedoch ein sehr heterogenes Bild ab. So hängt es zum einen vom Kanton, zum anderen vom Engagement der Verantwortlichen vor Ort ab, inwieweit das Recht auf Bildung in der Realität umgesetzt wird. Viele der krebsbetroffenen Kinder und Jugendlichen, die mit schulischen Schwierigkeiten kämpfen, wünschen sich gemeinsam mit ihren Eltern ein gerechteres Schulsystem. Ein System, das ihren Bedürfnissen mit Akzeptanz und Verständnis begegnet, das sie nicht ausgrenzt, sondern miteinbezieht und ihnen einen gleichberechtigten Zugang zu den bestmöglichen Bildungschancen ermöglicht.