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Sport
03.07.2023

Vom Weitsprungmeister zum Sprintlehrling

Heimatgefühle auf der «Insel des ewigen Frühlings»: Der Leichtathlet Enrico Güntert trainiert auch im Centro Desportivo da Madeira auf einer Schaffhauser Leichtathletik-Bahn.
Heimatgefühle auf der «Insel des ewigen Frühlings»: Der Leichtathlet Enrico Güntert trainiert auch im Centro Desportivo da Madeira auf einer Schaffhauser Leichtathletik-Bahn. Bild: spormedia.es
Enrico Güntert war auf dem Sprung zur 8-Meter-Marke – bis ihn diverse Verletzungen ausbremsten. Nun nähert sich der Schaffhauser in grossen Schritten der magischen 10-Sekunden-Schallmauer, dem Eintrittstor zu den fünf Ringen. Ein Blick auf die Karriere eines Sportlers, der alles dafür gibt, sein grosses Ziel zu erreichen.

Läuferknie und «Jumper’s Knee», verschobene Bandscheiben im unteren Rücken, Bänderriss im Sprunggelenk, Muskelfaserriss im Oberschenkel, dazu Zerrungen, die ihn zweifeln, jedoch nicht verzweifeln liessen: Enrico Günterts Verletzungsakte ist lang. So lang, dass für ihn im vergangenen Herbst feststand: «Wenn ich mein Ziel einer Olympiateilnahme erreichen will, muss ich mich umorientieren.» 

Sprinten, ohne abzuheben

Die naheliegende Lösung wäre für den 1,92-Meter-Mann mit Schuhgrösse 48 gewesen, vom Sand in den Eiskanal zu wechseln – von der Leichtathletik- in die Bobbahn. Doch Enrico Günterts Herz schlägt für die olympischste aller Sportarten. Im Stadionoval erlebte der Athlet des LC Schaffhausen und des TV Engen seine emotionalsten Momente. Hier kürte er sich 2019 zum deutschen U23-Meister im Weitsprung. Und hier vertrat er die Schweiz im Windschatten von Jason Joseph an den U23-Europameisterschaften in Gävle (SWE). 

Nun, im Alter von 26 Jahren, erlernt Enrico Güntert zwar keine neue Kunstform, aber eine neue Disziplin: den Sprint. Was passiert, wenn Explosivität und Speed aufeinandertreffen, zeigt das Beispiel von Marcell Jacobs, auch bekannt als «crazy Long Jumper». Der ehemalige italienische Meister im Weitsprung wurde 2021 Olympiasieger über 100 Meter und mit der 4x100-Meter-Staffel. Nicht dass sich Güntert, dessen Mutter ursprünglich aus Italien stammt, Jacobs als Vorbild nähme – «ich messe mich primär mit mir» –, doch seine Veranlagungen für das «Sprinten, ohne abzuheben» sind spätestens seit der Hallensaison 2023 unübersehbar. 

Fünftschnellster Schweizer aller Zeiten

Im Athletik-Zentrum St. Gallen stürmte Enrico Güntert Mitte Februar nicht nur zur Silbermedaille an den nationalen Titelkämpfen. Nein, mit 6,62 Sekunden, der fünftschnellsten 60-Meter-Zeit eines Schweizers überhaupt, qualifizierte er sich auch für die Indoor-Europameisterschaften in Istanbul (TUR). Ob aufgrund eines technischen Fehlstarts oder selbstverschuldet: Noch heute ärgert sich der Sprintnovize, dass er auf der internationalen Bühne «nicht zeigen konnte, was in mir steckt». Umso mehr treibt ihn das Missgeschick an, es auf der Königsdistanz besser zu machen. In seiner ersten 100-Meter-Saison steht er bislang mit 10,31 Sekunden zu Buche, aufgestellt an der Kurpfalz-Gala in Weinheim Ende Mai dieses Jahres. 

Schon als Weitspringer mit einer Bestleistung von 7,76 Meter (aus 42 Metern Anlauf) durchmass Güntert die 100 Meter in 10,58 Sekunden. Im Coronajahr 2020 war er damit schneller als jeder Schaffhauser vor ihm. Zwischen der Tilgung des 61-jährigen Kantonalrekords (10,65 Sek.) und der Limite für die Olympischen Spiele 2024 (10,00) liegt indes eine Welt. Und um diese Welt dreht sich inzwischen alles im Alltag des Wahl-Neuhausers mit deutsch-italienischen Wurzeln. 

Alles auf Olympia ausgerichtet

«Olympia ist kein Traum», bekennt Enrico Güntert, «sondern das grosse Ziel.» Wenn nicht in Paris 2024, dann will der 26-Jährige spätestens im Jahr 2028 in Los Angeles am Start stehen. Wenn nicht als Einzelathlet, dann als Mitglied der 4x100-Meter-Nationalstaffel. Die Schweizerinnen haben es mit Platz vier in Tokio 2021 vorgemacht. «Das Niveau im Sprint ist explodiert, trotzdem muss die Qualifikation (Top 16 der Welt) auch für uns Männer möglich sein», rechnet der Team-EM-Teilnehmer in der «First Division» (Top 16 Europas) vor.  

An seinem Einsatz soll es nicht liegen. Unterstützt von persönlichen Partnern wie der Schaffhauser Conica AG, die Günterts Leidenschaft buchstäblich auf und neben der Laufbahn teilt, hat der Musterathlet sein ganzes Umfeld nach den fünf Ringen ausgerichtet. 

Um sich das Leben als Spitzensportler auch finanziell leisten zu können, arbeitet der gelernte Kaufmann Teilzeit als Fachspezialist Energien bei der Reasco Immobilien AG. Von seiner «Homebase» am Rheinfall reist er zu (inter-)nationalen Wettkämpfen, jagt Zeiten und Punkte im Olympiaranking und pendelt für Trainings, Camps und Tests zwischen Kreuzlingen, Schaffhausen, Madeira und Offenburg. Dazu gesellen sich Staffelzusammenzüge an den nationalen Leistungszentren (NLZ) in Bern und Zürich. «Die Regeneration und das Sozialleben kommen im Moment sicher zu kurz», räumt Enrico Güntert ein, «aber ich will mir nach meiner Sportkarriere nie vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben.» Ob es für Olympia reicht? «Kopf und Herz sagen Ja. Und sonst muss ich mir das mit den Winterspielen nochmals überlegen…» 

«Umbau» zur Sprintrakete

Aufgewachsen in Büsingen, eifert Enrico Güntert früh seinen beiden älteren Brüdern nach. Er spielt Fussball beim Sporting Club Schaffhausen (als Torwart) und Korbball beim TV Büsingen (zweifacher Juniorenmeister). Sein Talent fürs «Laufen, Springen, Werfen» fällt auch Günterts Sportlehrer auf, der den Rohdiamanten mit 15 Jahren zum LC Schaffhausen schickt. Den Werdegang vom U18-SM-Silbermedaillengewinner im Dreisprung (2014) zum Elite-SM-Silbermedaillengewinner über 60 Meter (2023) beschreibt der Neosprinter in einer Analogie zum Hausbau: «Mein erster Trainer Peter Knöpfli hat das Grundstück übernommen und das Fundament gelegt; mein zweiter Trainer Christian Gutgsell war der Architekt, der mir aufzeigte, wie ich bauen muss; und nun beginnt die Konstruktion mit Headcoach Sarah Weber.» Die Leichtathletik-Trainerin und Sportkoordinatorin am Talent-Campus Bodensee übernahm den einstigen Sport-KV-Absolventen gewissermassen «im Keller», nachdem sich Güntert in der Sprunggrube abermals schwer verletzt hatte. Seither schreitet der «Umbau» zur Sprintrakete schneller voran, als projektiert. Obwohl Einzelathlet, sieht sich der zielstrebige Schaffhauser im übertragenen Sinn als Teil eines «Mehrfamilienhauses». Zu seinem Team zählen unter anderen die Rheintaler 4x100-Meter-Olympiafinalistin Riccarda Dietsche und der Schaffhauser Laufcoach Daniel Rahm. Der Baumeister-Assistent widmet sich Günterts «Erdgeschoss» auf der Munotsportanlage, wenn dieser gerade nicht in Kreuzlingen (Sommer) oder St. Gallen (Winter) ackert, bohrt und hämmert.

 

Die grössten Einzelerfolge

Geboren: 18. Juni 1997

Wohnort: Neuhausen

2023

Team-EM-Teilnehmer 4x100 m

Hallen-EM-Teilnehmer 60 m 

Hallen-SM-Zweiter 60 m 

2019

SM-Dritter Weitsprung

Hallen-SM-Zweiter Hochsprung

U23-EM-Teilnehmer Weitsprung

Deutscher U23-Meister Weitsprung

Schweizer U23-Meister Hoch- und Weitsprung

2018

Schweizer U23-Meister Hochsprung

2016

Schweizer U20-Meister Dreisprung (indoor) 

2015

Schweizer U20-Meister Dreisprung (indoor und outdoor)

Persönliche Bestleistungen 

(Kantonalrekorde) 

60 m: 6,62 Sek. (indoor)  

100 m: 10,31 Sek.

200 m: 21,53 Sek.

Weitsprung: 7,76 m (indoor) und 7,70 m (outdoor)

Schaffhausen24 / Manuel Stocker