Läuferknie und «Jumper’s Knee», verschobene Bandscheiben im unteren Rücken, Bänderriss im Sprunggelenk, Muskelfaserriss im Oberschenkel, dazu Zerrungen, die ihn zweifeln, jedoch nicht verzweifeln liessen: Enrico Günterts Verletzungsakte ist lang. So lang, dass für ihn im vergangenen Herbst feststand: «Wenn ich mein Ziel einer Olympiateilnahme erreichen will, muss ich mich umorientieren.»
Sprinten, ohne abzuheben
Die naheliegende Lösung wäre für den 1,92-Meter-Mann mit Schuhgrösse 48 gewesen, vom Sand in den Eiskanal zu wechseln – von der Leichtathletik- in die Bobbahn. Doch Enrico Günterts Herz schlägt für die olympischste aller Sportarten. Im Stadionoval erlebte der Athlet des LC Schaffhausen und des TV Engen seine emotionalsten Momente. Hier kürte er sich 2019 zum deutschen U23-Meister im Weitsprung. Und hier vertrat er die Schweiz im Windschatten von Jason Joseph an den U23-Europameisterschaften in Gävle (SWE).
Nun, im Alter von 26 Jahren, erlernt Enrico Güntert zwar keine neue Kunstform, aber eine neue Disziplin: den Sprint. Was passiert, wenn Explosivität und Speed aufeinandertreffen, zeigt das Beispiel von Marcell Jacobs, auch bekannt als «crazy Long Jumper». Der ehemalige italienische Meister im Weitsprung wurde 2021 Olympiasieger über 100 Meter und mit der 4x100-Meter-Staffel. Nicht dass sich Güntert, dessen Mutter ursprünglich aus Italien stammt, Jacobs als Vorbild nähme – «ich messe mich primär mit mir» –, doch seine Veranlagungen für das «Sprinten, ohne abzuheben» sind spätestens seit der Hallensaison 2023 unübersehbar.
Fünftschnellster Schweizer aller Zeiten
Im Athletik-Zentrum St. Gallen stürmte Enrico Güntert Mitte Februar nicht nur zur Silbermedaille an den nationalen Titelkämpfen. Nein, mit 6,62 Sekunden, der fünftschnellsten 60-Meter-Zeit eines Schweizers überhaupt, qualifizierte er sich auch für die Indoor-Europameisterschaften in Istanbul (TUR). Ob aufgrund eines technischen Fehlstarts oder selbstverschuldet: Noch heute ärgert sich der Sprintnovize, dass er auf der internationalen Bühne «nicht zeigen konnte, was in mir steckt». Umso mehr treibt ihn das Missgeschick an, es auf der Königsdistanz besser zu machen. In seiner ersten 100-Meter-Saison steht er bislang mit 10,31 Sekunden zu Buche, aufgestellt an der Kurpfalz-Gala in Weinheim Ende Mai dieses Jahres.
Schon als Weitspringer mit einer Bestleistung von 7,76 Meter (aus 42 Metern Anlauf) durchmass Güntert die 100 Meter in 10,58 Sekunden. Im Coronajahr 2020 war er damit schneller als jeder Schaffhauser vor ihm. Zwischen der Tilgung des 61-jährigen Kantonalrekords (10,65 Sek.) und der Limite für die Olympischen Spiele 2024 (10,00) liegt indes eine Welt. Und um diese Welt dreht sich inzwischen alles im Alltag des Wahl-Neuhausers mit deutsch-italienischen Wurzeln.
Alles auf Olympia ausgerichtet
«Olympia ist kein Traum», bekennt Enrico Güntert, «sondern das grosse Ziel.» Wenn nicht in Paris 2024, dann will der 26-Jährige spätestens im Jahr 2028 in Los Angeles am Start stehen. Wenn nicht als Einzelathlet, dann als Mitglied der 4x100-Meter-Nationalstaffel. Die Schweizerinnen haben es mit Platz vier in Tokio 2021 vorgemacht. «Das Niveau im Sprint ist explodiert, trotzdem muss die Qualifikation (Top 16 der Welt) auch für uns Männer möglich sein», rechnet der Team-EM-Teilnehmer in der «First Division» (Top 16 Europas) vor.
An seinem Einsatz soll es nicht liegen. Unterstützt von persönlichen Partnern wie der Schaffhauser Conica AG, die Günterts Leidenschaft buchstäblich auf und neben der Laufbahn teilt, hat der Musterathlet sein ganzes Umfeld nach den fünf Ringen ausgerichtet.
Um sich das Leben als Spitzensportler auch finanziell leisten zu können, arbeitet der gelernte Kaufmann Teilzeit als Fachspezialist Energien bei der Reasco Immobilien AG. Von seiner «Homebase» am Rheinfall reist er zu (inter-)nationalen Wettkämpfen, jagt Zeiten und Punkte im Olympiaranking und pendelt für Trainings, Camps und Tests zwischen Kreuzlingen, Schaffhausen, Madeira und Offenburg. Dazu gesellen sich Staffelzusammenzüge an den nationalen Leistungszentren (NLZ) in Bern und Zürich. «Die Regeneration und das Sozialleben kommen im Moment sicher zu kurz», räumt Enrico Güntert ein, «aber ich will mir nach meiner Sportkarriere nie vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben.» Ob es für Olympia reicht? «Kopf und Herz sagen Ja. Und sonst muss ich mir das mit den Winterspielen nochmals überlegen…»