W er kennt’s? Das Feierabendbier, den Wein zum Anstossen an einem Familienessen oder den Prosecco an der Geburtstagsfeier. Wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Die Menschen werden nicht damit geboren. Im Laufe der Sozialisation werden Verhaltensweisen und Gewohnheiten durch Eltern, andere Bezugspersonen und gesellschaftliche Institutionen (zum Beispiel Kindergarten, Schule und so weiter) anerzogen. Kindheitserfahrungen haben grossen Einfluss auf die späteren Gewohnheiten, die oft beibehalten werden. Als Suchtberaterin beschäftige ich mich mit diesem Thema, denn ich erfahre und erlebe viele Leidensgeschichten, bei denen aus Gewohnheit eine Alkoholsucht entstanden ist.
Daher setzte ich mich mit dem Thema Gewohnheitsbildung und dem Durchbrechen von Gewohnheiten auseinander. Klar, Gewohnheiten haben auch gute Aspekte. Müssten wir jeden Tag darüber nachdenken oder entscheiden, ob und wann wir die Zähne putzen, wie wir den Kaffee machen oder wie wir zur Arbeit kommen, wäre dies sehr anstrengend. Gewohnheiten sind Rituale, die uns den Alltag erleichtern. Bei der Arbeit mit Menschen mit risikoreichem Alkoholkonsum geht es leider um die schädlichen Gewohnheiten mit negativen Konsequenzen.
Daher habe ich Respekt und viel Anerkennung für diejenigen Menschen, die sich bei einer Fachstelle melden, weil sie merken, dass das Feierabendbier immer sein muss. Oder aus einem Glas Wein am Abend zwei oder drei geworden sind. Sie erkennen, dass die Gewohnheit langsam zur Abhängigkeit wird, und sind damit nicht einverstanden. Neue Gewohnheiten finden und diese einüben, ist ein Mittel, um ungewollte destruktive Gewohnheiten loszuwerden. Sicherlich ist das einfacher gesagt als getan. Aber ich spüre bei diesen Menschen den Willen und den Wunsch nach Veränderung. Sie sind bereit, sich auf Gespräche einzulassen und ihren Alkoholkonsum und ihr Verhalten ehrlich zu reflektieren. Sie wollen etwas Neues und gleichzeitig Altes loswerden. Oder wie Mark Twain so schön sagte: «Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunterboxen, Stufe für Stufe.»