Die Redensart «Auge um Auge, Zahn um Zahn» wird im heutigen Sprachgebrauch oft im negativen Sinn genutzt, meistens in Bezug auf Rache oder Vergeltung. Aber auch für die Rechtfertigung von Vergeltungsplänen wird sie oft herangezogen. Wenn jemand einer anderen Person Schaden zufügt, besagt die Redewendung, dass die geschädigte Person legitimiert ist, der Gegenpartei einen Schaden in derselben Dimension zuzufügen. Das kann schon im Kindesalter im Sandkasten beginnen. Wenn Thomas Leas Sandkuchen absichtlich zerstört, dann sollte Lea auch Thomas’ Sandburg vernichten dürfen. Letztlich geht es darum, dasselbe Mass an Vergeltung anzuwenden. Die Redewendung stammt aus der Bibel und findet sich an mehreren Stellen: im Alten wie auch im Neuen Testament.
Altes Testament
Im Alten Testament findet sich eine Reihe von Regeln, die Mose dem Volk gegeben haben soll, falls es zu schwerwiegenden Auseinandersetzungen zwischen zwei Menschen kommt. Diese Anweisungen wurden angeblich direkt von Gott übermittelt. Im zweiten Buch Mose wird festgelegt: «Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuss für Fuss, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.» In diesem alten Bibeltext geht es um das Prinzip der Vergeltung: Gleiches muss mit Gleichem vergolten werden. Die Rache soll im selben Mass ausfallen, wie die Schuld entstanden ist. Die Regel soll jedoch nicht nur eine Gleichstellung zwischen der geschädigten Partei und der Täterschaft herbeiführen, sondern die Menschen auch vor möglichen Eskalationen schützen. Denn nachdem die angemessene Wiedergutmachung geleistet worden ist, «isch es dänn au guet». Die Vergeltung wird auf eine einzelne Tat begrenzt, um eine Anreihung von Gewalttaten zu verhindern.
Neues Testament
Im Neuen Testament kann tatsächlich eine andere Interpretation oder eine Art Berichtigung im Rahmen von Jesus› Bergpredigt im Matthäus-Evangelium gefunden werden: «Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist ‹Auge um Auge, Zahn um Zahn›. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.» Korrigiert Jesus hiermit die Ansichten von Mose aus dem Alten Testament? Es scheint so, dass er damit zum Ausdruck bringen möchte, dass es besser sei, Unrecht zu erdulden als Unrecht auszuüben. Oder anders gesagt: Als gute Menschen solle man nicht Böses mit Bösem vergelten, sondern stattdessen versuchen, Frieden mit den Mitmenschen zu schaffen.
Wie in vielen anderen Bereichen lassen auch alte Schriften viel Interpretationsspielraum. Eine einzige «richtige» Wahrheit sucht man wohl vergebens. Im Zweifelsfall gilt bekanntlich: Fragen Sie Ihren Augen- oder Zahnarzt.