Im Interview mit dem «Bock» blickt Jürg Wittwer, Generaldirektor des Touring Club Schweiz (TCS), auf die Veränderungen der Mobilität in den vergangenen Jahren zurück und spricht darüber, wie die motorisierte Mobilität neu erfunden wird.
«Bock»: Mobilität und Klima: Lassen sich aus Ihrer Sicht diese zwei grossen Themenkreise vereinen?
Jürg Wittwer: A priori ist jede Form der Mobilität umweltschädlich. Auch ein Carbon-Rahmen für ein Velo hinterlässt einen ökologischen Fussabdruck. Ein voll beheiztes Tram, das in der Nacht stundenlang seine 60 Tonnen ohne Passagiere beschleunigt und wieder abbremst, ist nicht «umweltfreundlich». Und schliesslich ist auch ein Elektro-Auto nur «umweltfreundlicher» als sein Pendant mit Verbrennungsmotor, aber deswegen noch lange nicht «unschädlich». Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft ohne Mobilität nicht überlebensfähig – zumindest nicht mit der heutigen Lebenserwartung, geschweige denn mit dem heutigen Komfort. Unser Essen, unsere Kleider, unsere Möbel, unsere Medikamente – nichts von alldem lässt sich ohne Waren- und Personenmobilität produzieren. Es geht also darum, eine Mobilität zu finden, welche die Regenerationsfähigkeit der Natur nicht überschreitet. Historisch gesehen hat der TCS viele Initiativen unterstützt, um diese Vereinbarkeit zu erreichen. Wir haben die ersten Velowege ausgesteckt, haben uns für die Katalysatoren stark gemacht und sind heute eine der massgeblichen Organisationen, wenn es um die Förderung der Elektromobilität geht.
Wie hat sich die Mobilität in den letzten Jahren verändert?
Wittwer: Die Gesamtmobilität ist jedes Jahr gewachsen – von rund 100 Milliarden Personenkilometern im Jahr 2 000 auf 140 Milliarden vor der Pandemie. Davon abgesehen ist sie jedoch in ihrer Struktur erstaunlich konstant geblieben. In den letzten 20 Jahren verharrte der Modalsplit unverändert. Etwas über 70 Prozent der Mobilitätsleistung wird durch den motorisierten Individualverkehr erbracht, 20 Prozent durch den Öffentlichen Verkehr und rund 10 Prozent durch den Langsamverkehr, das heisst Velo und Fussgänger. Meines Erachtens stehen wir nun jedoch am Anfang einer fundamentalen Veränderung unserer Mobilität.
Ab 2035 sollen keine neuen Autos mit Verbrennungsmotoren mehr zugelassen werden. Was bedeutet dieser Entscheid für die Schweiz?
Wittwer: In den letzten fünf Jahren ist in der Schweiz der Anteil der Elektroautos im Verkauf von zwei Prozent auf 18 Prozent gestiegen. Sämtliche grossen Hersteller:innen haben angekündigt, dass sie aus dem Geschäft mit Verbrennungsmotoren aussteigen wollen. Bereits heute kostet ein Elektroauto über die gesamte Lebensdauer deutlich weniger als sein Pendant mit Verbrennungsmotor.
Wenn der Batteriepreis weiter sinkt, wird ein Elektroauto auch in der Anschaffung bald günstiger sein. Im Jahr 2035 wird dieser Entscheid darum nur noch einen ganz kleinen Teil der Schweizer Bevölkerung betreffen – zumal nur der Verkauf verboten wird. Die meisten werden dazumal bereits ihr zweites oder drittes Elektroauto fahren. Hätte man vor 12 Jahren ein Verbot für DVDs oder analoge Fotokameras ausgerufen, wäre es wohl zu einem Aufstand gekommen – und heute interessiert sich niemand mehr dafür. Das ist das Resultat einer Welt, die unheimlich schnell neue Technologien entwickelt und annimmt.
Was verstehen Sie unter Mobilitäts-Revolution?
Wittwer: Die anstehende Revolution wird durch zwei Technologien getrieben: die Batterie und die künstliche Intelligenz. Beide Technologien haben in den letzten Jahren unheimliche Fortschritte gemacht. Die Energiedichte von Batterien hat sich in den letzten zehn Jahren um den Faktor acht verbessert, gleichzeitig ist deren Preis in etwa im selben Mass gesunken. Wenn wir als Gedankenexperiment diese Entwicklung auf Benzin anwenden, dann würde ein Auto mit vollem Benzintank etwa 7 000 Kilometer weit fahren und die Tankfüllung würde gerade mal 14 Franken kosten. So massiv hat sich die Batterietechnologie im letzten Jahrzehnt verbessert. Die zweite Technologie, die künstliche Intelligenz, hat sich ebenso spektakulär entwickelt, auch wenn das selbstfahrende Auto heute technologisch noch ausser Reichweite ist. Diese beiden Technologien werden unsere Mobilität auf den Kopf stellen.
Wie sieht für Sie die Mobilität der Zukunft aus? Was wird sich an der Mobilität der Zukunft verändern?
Wittwer: Erstens wird sich der Trend zum Elektroauto beschleunigen – wegen dessen Umweltfreundlichkeit, aber auch wegen den fallenden Preisen. Zweitens wird die motorisierte Mobilität neu erfunden, vom elektrischen Trottinett über Mini-Autos wie den Microlino oder den Citroen AMI bis zur Neuerfindung des klassischen Autos, welches in seiner heutigen Form um den Verbrennungsmotor herum gebaut wurde. Das Auto wird wieder kleiner, noch umweltfreundlicher, leiser, städtefreundlicher und deutlich günstiger werden. Drittens werden dank künstlicher Intelligenz zunächst autonome Kleinbusse auf unseren Strassen auftauchen und so den klassischen ÖV beweglicher, kundennaher und günstiger machen. Bereits in zwei bis drei Jahren werden wir auch Elektroautos sehen, mit welchen auf der Autobahn, bis Tempo 60, Zeitunglesen erlaubt ist. Die gesetzliche Grundlage hierfür ist bereits in Erarbeitung. In Japan ist es bereits heute Realität. Und viertens werden wir den Beginn der vertikalen Mobilität erleben. Dank künstlicher Intelligenz und leichteren Batterien rückt das fliegende Auto in den Bereich der Wirklichkeit. Alle grossen Automobilhersteller forschen an autonomen Personendrohnen. Die erste will ihren kommerziellen Betrieb an der Olympiade in Paris im Sommer 2024 aufnehmen.
Das nächste Jahrzehnt wird für die Mobilität also sehr spannend. Der Modalsplit wird vielfältiger und komplexer, weil wir vielfältigere Formen der Fortbewegung haben werden. Die Herausforderung wird sein, dass wir hier nicht gegeneinander, sondern miteinander Lösungen finden.
Was bedeutet Ihnen als CEO des TCS Mobilität aus persönlicher und beruflicher Sicht?
Wittwer: Mobilität hat mich immer fasziniert. In meinem Leben habe ich zahlreiche Verkehrsmittel regelmässig benutzt. Ich bin Velo, Motorrad und Auto gefahren. Als Passagier benutze ich intensiv unsere SBB. Es ist mein wichtigstes berufliches Fortbewegungsmittel. Daneben habe ich auch viele exotischere Verkehrsmittel intensiv benutzt, beispielsweise ein elektrisches Trottinett und im Ausland auch elektrische Monowheels, OneWheels und Skateboards. Es freut mich darum besonders, wenn wir uns beim TCS sehr aktiv mit den neuen Technologien der Mobilität auseinandersetzen. Dazu gehören die Drohnen, die Mikromobilität, das autonome Fahren und die Elektromobilität. In allen vier Bereichen ist der TCS an vorderster Front engagiert, und es werden neue prägende Dienstleistungen für unsere Mitglieder entstehen.