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Kanton
20.02.2023
21.02.2023 08:00 Uhr

Unterwegs mit Blaulicht und Sirene

Stefan Leu ist Rettungssanitäter bei den Spitälern Schaffhausen. An seinem Beruf liebt er unter anderem die Abwechslung. Er empfindet Genugtuung, wenn er die momentane gesundheitliche Situation der Patientinnen und Patienten verbessern kann.
Stefan Leu ist Rettungssanitäter bei den Spitälern Schaffhausen. An seinem Beruf liebt er unter anderem die Abwechslung. Er empfindet Genugtuung, wenn er die momentane gesundheitliche Situation der Patientinnen und Patienten verbessern kann. Bild: Gabriella Coronelli, Schaffhausen24
Einen Tag lang begleitete eine «Bock»-Redaktorin hautnah Rettungskräfte der Spitäler Schaffhausen. Rettungssanitäterinnen und -sanitäter benötigen nicht nur medizinisches Fachwissen, sondern auch viel Einfühlungsvermögen und Flexibilität.

Es ist ein kalter Wintermorgen, als ich gegen 6.30 Uhr auf die Parkplätze der Spitäler Schaffhausen fahre. An der Geissbergstrasse herrscht schon reger Betrieb. «Um sieben Uhr finden in vielen Abteilungen des Spitals die Schichtwechsel statt», erklärt mir Stefan Leu. Der 55-Jährige ist seit über 20 Jahren beim Rettungsdienst Schaffhausen tätig und bildet mittlerweile mit einem Team Rettungssanitäterinnen und -sanitäter HF aus. 

Zu diesem Zeitpunkt ist die Lage in den Räumlichkeiten des Rettungsdienstes ruhig. «Das kann sich innerhalb weniger Augenblicke schlagartig ändern», informiert mich Stefan Leu. Und das wird es auch.

Heute ist Weiterbildungstag

Auch beim Rettungsdienst findet der Schichtwechsel um sieben Uhr statt. Ich erreiche den Aufenthaltsraum, wo der Schichtleiter die Anwesenden auf wichtige Informationen, wie beispielsweise die aktuellen Strassensperrungen, hinweist. Der ebenfalls anwesende John Böhlen, Leiter Rettungsdienst, verteilt daraufhin Kreuzworträtsel. Ein fixer Wochentag wird für das Auffrischen unterschiedlicher Themen genutzt: Heute geht es um das Thema Elektrokardiogramm (EKG). Das Lösungswort lautet Herzinfarkt. 

Hätte ich den Diskussionen bloss besser gefolgt, dann wäre ich besser auf das nun Folgende vorbereitet gewesen. Wenige Minuten später sitze ich hinten im Rettungswagen und fahre mit Blaulicht und Sirene zum ersten Einsatzort mit. Eine ältere Frau in der Stadt Schaffhausen benötigt Hilfe. Es wird ein Herzinfarkt vermutet.

Blaulicht und Sirene

Auf der Fahrt müssen wir immer wieder abbremsen, weil Fahrzeuge im Weg stehen. «Im Prinzip würde es genügen, wenn die Geschwindigkeit reduziert, der rechte Blinker gesetzt und möglichst rechts gefahren wird. So wissen wir, dass die anderen Verkehrsteilnehmenden uns bemerkt haben. Mehr braucht es nicht, wir finden unseren Weg», erklärt die Fahrerin Tiziana Gisler. Sie ist am Ende des ersten Ausbildungsjahrs zur diplomierten Rettungssanitäterin HF. Die 24-jährige gelernte Pflegefachfrau wollte schon immer Rettungssanitäterin werden. «Um diese Ausbildung absolvieren zu können, braucht es vorab entweder eine Ausbildung mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis oder die Matura», erklärt Stefan Leu.

Tiziana Gisler kümmert sich um die Medikation und bespricht Details mit der Notfallaufnahme. Bild: Gabriella Coronelli, Schaffhausen24

Der Rettungswagen ist kein Taxi  

Beim Rettungsdienst Schaffhausen sind aktuell 26 Rettungskräfte und drei Studierende beschäftigt. «Wir suchen noch zwei weitere Rettungssanitäterinnen oder -sanitäter. Die Besetzung dieser freien Stellen zeigt sich schwierig», berichtet John Böhlen. Die Einsätze haben in den letzten Jahren zugenommen: auch die Bagatell-Einsätze. Die Notrufnummer 144 ist für medizinische Notfallsituationen gedacht, die schnell in einem nahen Krankenhaus untersucht und behandelt werden müssen. «Es kommt immer wieder vor, dass die Ambulanz als reines Transportmittel ausgenutzt wird. Wenn jemand beispielweise seit Wochen Rückenschmerzen hat, wäre es richtig, zuerst den Hausarzt zu konsultieren», erzählt Stefan Leu. Er fügt an: «Ist jedoch unklar, ob es sich um eine ernste Situation handelt, oder wenn der Zustand sich drastisch ändert, soll in jedem Fall die 144 gewählt werden.» 

Jeder Bagatell-Einsatz kann das Leben einer anderen Person, die dringend Hilfe braucht, gefährden. «Wir versuchen immer, die Zeit zwischen Anruf und Ankunft des Rettungswagens so kurz wie nur möglich zu halten. Aber manchmal sind alle verfügbaren Ambulanzen in der Region unterwegs und dann müssen uns benachbarte Rettungsdienste unter die Arme greifen. Dies kann unter Umständen zu längeren Wartezeiten führen.» 

Lange Arbeitstage

Die Rettungskräfte arbeiten jeweils in einer zwölfstündigen Schicht. Die Kurzschicht dauert mit neun Stunden länger als der gewöhnliche Arbeitstag in den meisten anderen Berufen. Ich frage Stefan Leu, warum er sich schon seit über zwei Jahrzehnten der Rettungssanität widmet: «Es ist ein extrem spannender Beruf. Die Arbeitstage sind nie vorausschaubar, kein Tag gleicht dem anderen. Und wenn ich die momentane Situation bei Patientinnen und Patienten verbessern kann, empfinde ich viel Genugtuung.» Der Berufsbildner gibt an, dass es neben den schulischen Vorkenntnissen weitere Voraussetzungen für die Ausübung seines Berufes benötige: «Flexibilität ist wichtig. Man muss sich schnell auf wechselnde Situationen einlassen können. Die Lage am Einsatzort kann sich völlig anders zeigen als die uns vorliegenden Informationen.» 

«Das Leben ist wie eine Sanduhr. In jeder Sekunde fällt ein Korn herab. »
Stefan Leu Rettungssanitäter Spitäler Schaffhausen

Klare Aufgabenverteilung

Mittlerweile sind wir von unserem ersten Einsatz zurück. Die Patientin konnte dem Team der Notfallstation für weitere Untersuchungen übergeben werden. Während Stefan Leu den Bericht schreibt, füllt Tiziana Gisler die für den vorangegangenen Einsatz entnommenen Medikamente wieder auf und bereitet den Rettungswagen für die kommende Fahrt vor. Sämtliche Handlungen vor, während und nach einem Einsatz unterliegen einem klar vorgegebenen Ablauf. Insbesondere während der Versorgung der Patientin ist mir aufgefallen, dass sämtliche Anweisungen oder Feststellungen stets wiederholt werden. Stefan Leu klärt auf: «So stellen wir sicher, dass keine Missverständnisse entstehen und alle Beteiligten den gleichen Wissenstand haben.» Die Rettungskräfte strahlen Kompetenz, Ruhe und Freundlichkeit aus. 

Keine Patientenverfügung

Eigentlich wäre es jetzt an der Zeit, das Mittagessen einzunehmen. So weit kommt es aber nicht, denn der nächste Einsatz kündigt sich auf Handy, Funk und Pager an. Wir werden in ein Altersheim gerufen, wo wir bereits am Eingang von einer Pflegefachperson weitere Informationen über die zu versorgende Person erhalten. Im Zimmer angekommen, kann nur erahnt werden, wie ernst die Situation ist. In gewohnt sicherer Manier versuchen Stefan Leu und Tiziana Gisler der schwerkranken Person zu helfen. Ihre Arbeitsgänge scheinen immer schneller zu werden. Der Zustand zeigt sich als sehr heikel, sodass über Funk ein weiterer Rettungssanitäter und eine Anästhesiepflegefachperson gerufen werden. Die Frage, ob eine Patientenverfügung vorhanden ist, wird von der Pflegefachperson verneint. Die schriftlich vorhandene Willenserklärung, die in genau einer solchen Situation hilfreich wäre, sei leider die Ausnahme.

Die leidende Person kann schliesslich insoweit stabilisiert werden, dass sie in den Rettungswagen gebracht werden kann. Stefan Leu hält ihre Hand und streichelt ihr über den Kopf. Ich bin mir sicher: Diese Geste steht nicht in den Instruktionen. 

Nach Ankunft im Notfallzentrum der Spitäler Schaffhausen wird die ältere Person in den Schockraum gebracht. Das anwesende medizinische Notfallpersonal wird über ihren Zustand in Kenntnis gesetzt. Danach folgt das mir mittlerweile bekannte Prozedere: Tiziana Gisler versorgt den Rettungswagen, Stefan Leu schreibt den Bericht.

Nachdem die zu versorgende Person dem medizinischem Notfallpersonal übergeben wurde, schreibt Stefan Leu abschliessend den Bericht. Bild: Gabriella Coronelli, Schaffhausen24

Das Sanduhr-Prinzip

Rettungskräfte sind tagtäglich mit Leben und Tod konfrontiert. Entsprechend lernen sie auch damit umzugehen. Sie wissen genau, wie nahe diese beiden Ereignisse beieinander liegen können. «Das Leben ist wie eine Sanduhr. In jeder Sekunde fällt ein Korn herab. Wie viele Sandkörner sich oben im Glas befinden, weiss niemand. Manchmal können wir mit unseren Massnahmen vor Ort den Prozess etwas verlangsamen oder herauszögern», vergleicht Stefan Leu und verdeutlicht: «Fällt aber das letzte Sandkorn, können auch wir nicht mehr helfen. Leben und Tod können oft nahe beieinanderliegen.»

Es gebe auch viele schöne Moment und Erlebnisse in ihrem Berufsalltag. Sei es, wenn durch Medikamente Schmerzen gelindert oder mit wenigen Worten Trost, Hoffnung oder Zuversicht gespendet werden kann. «Und manchmal darf man sogar als Geburtshelfer einem neuen Leben auf die Welt helfen», erzählt Stefan Leu.

Während ich nach sieben Stunden Einsatzbegleitung in das bevorstehende Wochenende starten kann, haben Stefan Leu und Tiziana Gisler erst etwas mehr als Halbzeit ihres Arbeitstages geschafft. Der nächste Einsatz wartet bereits auf die beiden.

Gabriella Coronelli, Schaffhausen24