Jeden Morgen greift Adèle Lukácsi bei sich zuhause in die Blechdose und zieht einen der darin zusammengefalteten Sinnsprüche heraus. «Es ist faszinierend, was mir das für einen Schub gibt und wie oft der Spruch zum Tag passt.» Seit ihrer Kindheit ist Adèle Lukácsi eine passionierte Schreiberin, bis heute hat die seit 1963 in der Schweiz wohnhafte Lyrikerin zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte sowie sechs Erzählbände veröffentlicht. Und auch mit 85 Jahren denkt sie noch nicht daran, mit ihrer Leidenschaft aufzuhören.
Die Nacht zum Schreiben
Überall in ihrer Wohnung verteilt liegen Blöcke und Stifte, erzählt Adèle Lukácsi. Denn wenn sie eine Idee habe, müsse sie diese sofort aufs Papier bringen. «Es kann auch sein, dass mir während dem Kochen ein wichtiger Gedanke kommt – dann muss ich den Herd kurz ausschalten, um diesen Gedanken zu notieren.» Auch nachts mache sie diese Erfahrung immer wieder. «Denn wenn ich dann nicht aufstehe, um einen Satz aufzuschreiben, ist er am Morgen weg.» Die Nächte seien sehr wichtig bei der Arbeit der 85-Jährigen: «Der Tag ist meine Inspirationsquelle, die Nacht dient mir zum Schreiben. Am besten ist es dunkel, ich bin alleine und höre keine Geräusche um mich herum, auch keine Musik.»
Musik- und sprachbegeistert seit jeher
Im Jahr 1936 kam Adèle Lukácsi als jüngste von drei Töchtern zur Welt. Aufgewachsen ist sie im Landkreis Waldshut in Baden-Württemberg – direkt an der Schweizer Grenze. «Ich bin mit dem Chläggi-Dütsch grossgeworden», so die 85-Jährige.
Ihre gesamte Schulzeit hat Adèle Lukácsi in Deutschland absolviert. «Als ich mit fünfeinhalb Jahren in die Schule kam, konnte ich bereits lesen», erinnert sie sich. Von klein auf spielten die Musik und die Sprache eine grosse Rolle im Leben der Lyrikerin. «In der kleinen Barock-Dorfkirche fand ich alles, was mich schon immer faszinierte – der Gesang, die lateinische Sprache und die Blumen.»
Nach der obligatorischen Volksschulzeit mit einem angehängten Jahr Haushaltsschule, wollte sie weiter zur Schule gehen – was damals nur im Internat möglich war. «Ich musste nicht, aber ich nahm alles in Kauf für eine gute Schulbildung. Von meinen Eltern erhielt ich stets grosse Unterstützung», erzählt die Lyrikerin. Doch die Schulzeit von Adèle Lukácsi war keine einfache: «Das war direkt nach dem zweiten Weltkrieg, der entsetzlichsten Zeit, an die ich mich erinnere.» In einer Klosterschule konnte Adèle Lukácsi ein staatlich anerkanntes Handelsschuldiplom machen. Dieser Weg ermöglichte ihr, ihren tiefsten Wunsch zu verwirklichen: das musische Abitur mit Musik und Sprachen als Hauptfächern. «Das Auswahlverfahren war sehr hart und beinhaltete eine dreitägige Aufnahmeprüfung.» In ihrer Freizeit las sie sich durch die Weltliteratur. Nach dem musischen Abitur machte Adèle Lukácsi an einer Dolmetscherschule den Abschluss als Fremdsprachenkorrespondentin in Französisch und Englisch. «Die Wirren des zweiten Weltkriegs verstörten mich dermassen, dass ich dem Vorschlag meines Vaters, eine angebotene Stelle in der Schweiz anzunehmen, gerne folgte.»
Nach mehreren Jahren Berufserfahrung heiratete sie und entschied sich, die kommenden Jahre ihrer Familie und den drei Söhnen zu widmen. Den Wiedereinstieg fand sie als Kursleiterin in der Migros Klubschule, wo sie in ihrem erlernten Beruf 15 Jahre lang Menschen aus rund 70 Ländern unterrichtete. «Die Schicksale, mit denen ich konfrontiert wurde, waren zutiefst aufwühlend. Was jetzt um uns geschieht, ist ein Spiegelbild davon.» Zu ihrem beruflichen Werdegang zählt zudem eine Ausbildung zur Sopranistin. Die beiden grossen Leidenschaften blieben also stets die Musik und die Sprachen.