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Gesellschaft
21.03.2022

«Die Sprache als Spiegel der Seele»

Seit 1961 lebt die Lyrikerin Adèle Lukácsi in Schaffhausen, aufgewachsen ist sie im Landkreis Waldshut in Baden-Württemberg – direkt an der Schweizer Grenze. Sowohl die Sprache als auch die Musik sind Themen, die sie bereits seit ihrer Kindheit begleiten.
Seit 1961 lebt die Lyrikerin Adèle Lukácsi in Schaffhausen, aufgewachsen ist sie im Landkreis Waldshut in Baden-Württemberg – direkt an der Schweizer Grenze. Sowohl die Sprache als auch die Musik sind Themen, die sie bereits seit ihrer Kindheit begleiten. Bild: Lara Gansser, Schaffhausen24
Die Schaffhauser Lyrikerin Adèle Lukácsi lebt auch mit 85 Jahren noch ihre grosse Leidenschaft: das Schreiben. Im Interview erzählt sie, warum sie den Tag dafür nutzt, sich inspirieren zu lassen, und die Nacht, um das Erlebte aufs Papier zu bringen.

Jeden Morgen greift Adèle Lukácsi bei sich zuhause in die Blechdose und zieht einen der darin zusammengefalteten Sinnsprüche heraus. «Es ist faszinierend, was mir das für einen Schub gibt und wie oft der Spruch zum Tag passt.» Seit ihrer Kindheit ist Adèle Lukácsi eine passionierte Schreiberin, bis heute hat die seit 1963 in der Schweiz wohnhafte Lyrikerin zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte sowie sechs Erzählbände veröffentlicht. Und auch mit 85 Jahren denkt sie noch nicht daran, mit ihrer Leidenschaft aufzuhören. 

Die Nacht zum Schreiben

Überall in ihrer Wohnung verteilt liegen Blöcke und Stifte, erzählt Adèle Lukácsi. Denn wenn sie eine Idee habe, müsse sie diese sofort aufs Papier bringen. «Es kann auch sein, dass mir während dem Kochen ein wichtiger Gedanke kommt – dann muss ich den Herd kurz ausschalten, um diesen Gedanken zu notieren.» Auch nachts mache sie diese Erfahrung immer wieder. «Denn wenn ich dann nicht aufstehe, um einen Satz aufzuschreiben, ist er am Morgen weg.» Die Nächte seien sehr wichtig bei der Arbeit der 85-Jährigen: «Der Tag ist meine Inspirationsquelle, die Nacht dient mir zum Schreiben. Am besten ist es dunkel, ich bin alleine und höre keine Geräusche um mich herum, auch keine Musik.»

Musik- und sprachbegeistert seit jeher

Im Jahr 1936 kam Adèle Lukácsi als jüngste von drei Töchtern zur Welt. Aufgewachsen ist sie im Landkreis Waldshut in Baden-Württemberg – direkt an der Schweizer Grenze. «Ich bin mit dem Chläggi-Dütsch grossgeworden», so die 85-Jährige. 

Ihre gesamte Schulzeit hat Adèle Lukácsi in Deutschland absolviert. «Als ich mit fünfeinhalb Jahren in die Schule kam, konnte ich bereits lesen», erinnert sie sich. Von klein auf spielten die Musik und die Sprache eine grosse Rolle im Leben der Lyrikerin. «In der kleinen Barock-Dorfkirche fand ich alles, was mich schon immer faszinierte – der Gesang, die lateinische Sprache und die Blumen.»

Nach der obligatorischen Volksschulzeit mit einem angehängten Jahr Haushaltsschule, wollte sie weiter zur Schule gehen – was damals nur im Internat möglich war. «Ich musste nicht, aber ich nahm alles in Kauf für eine gute Schulbildung. Von meinen Eltern erhielt ich stets grosse Unterstützung», erzählt die Lyrikerin. Doch die Schulzeit von Adèle Lukácsi war keine einfache: «Das war direkt nach dem zweiten Weltkrieg, der entsetzlichsten Zeit, an die ich mich erinnere.» In einer Klosterschule konnte Adèle Lukácsi ein staatlich anerkanntes Handelsschuldiplom machen. Dieser Weg ermöglichte ihr, ihren tiefsten Wunsch zu verwirklichen: das musische Abitur mit Musik und Sprachen als Hauptfächern. «Das Auswahlverfahren war sehr hart und beinhaltete eine dreitägige Aufnahmeprüfung.» In ihrer Freizeit las sie sich durch die Weltliteratur. Nach dem musischen Abitur machte Adèle Lukácsi an einer Dolmetscherschule den Abschluss als Fremdsprachenkorrespondentin in Französisch und Englisch. «Die Wirren des zweiten Weltkriegs verstörten mich dermassen, dass ich dem Vorschlag meines Vaters, eine angebotene Stelle in der Schweiz anzunehmen, gerne folgte.» 

Nach mehreren Jahren Berufserfahrung heiratete sie und entschied sich, die kommenden Jahre ihrer Familie und den drei Söhnen zu widmen. Den Wiedereinstieg fand sie als Kursleiterin in der Migros Klubschule, wo sie in ihrem erlernten Beruf 15 Jahre lang Menschen aus rund 70 Ländern unterrichtete. «Die Schicksale, mit denen ich konfrontiert wurde, waren zutiefst aufwühlend. Was jetzt um uns geschieht, ist ein Spiegelbild davon.» Zu ihrem beruflichen Werdegang zählt zudem eine Ausbildung zur Sopranistin. Die beiden grossen Leidenschaften blieben also stets die Musik und die Sprachen. 

 

«Zur Inspiration fahre ich manchmal einfach stundenlang Bus»
Adèle Lukácsi, Lyrikerin

Inspiration während Busfahrt

Adèle Lukácsi ist ein sehr weltoffener Mensch, dem es wichtig ist, einen Austausch mit den verschiedensten Generationen und Bevölkerungsschichten zu pflegen. Neben der Natur und der Musik sind die Menschen um sie herum die grösste Inspirationsquelle zum Schreiben. «Der Bus ist für mich eine wunderbare Quelle, weil dort alle Generationen zusammenkommen. Die verschiedensten Menschen sitzen nah beieinander und tauschen sich aus. Und manchmal muss man einfach zuhören – auch ungewollt.» Teilweise fahre sie mehrere Stunden auf der gleichen Linie Bus und lasse sich inspirieren. «Dann möchte ich mit niemandem sprechen und einfach bei der Sache sein», führt die sonst sehr kommunikationsfreudige Schaffhauserin aus. 

«Ich kann nur über das schreiben, was ich selbst erlebt, erfahren oder beobachtet habe», so Adèle Lukácsi. Ergänzend dazu zitiert sie Marie Ebner von Eschenbach, eine von ihr bewunderte Aphoristikerin. «Es geht nicht darum, was man erlebt, sondern wie man es erlebt.» So betont Adèle Lukácsi weiter, dass es beim Einfühlungsvermögen auch darum gehe, «das» zu hören, was «nicht» gesagt wird. «Nebensätze sind vielfach die Hauptsätze.» 

Gedichte und Romane

Zahlreiche lyrische Werke hat Adèle Lukácsi bis heute veröffentlicht, zuletzt im Jahr 2020 ihren dritten Lyrik-Band «Des Zornes und der Liebe Wellen». Weitere bekannte Werke der Schaffhauserin sind unter anderem die Erzählbände «Eines Lebens Anfang, eines Lebens Ende», «Die Reise vom Tag in die Nacht und zurück» und «Glut der Unruh». Beim Lesen der Gedichte und lyrischen Werke wird schnell spürbar, wie wichtig es der Lyrikerin ist, mit sinngefüllten Worten zu sprechen. «Meine Sprache muss echt sein, denn die Sprache ist der Spiegel der Seele», so Adèle Lukácsi.

«Mainstream gab es schon immer»
Adèle Lukácsi

Austausch mit Generationen

Wenn Adèle Lukácsi von ihren Enkeln gefragt wird, ob sie ein armes Kind gewesen sei, weil sie kein Handy hatte, verneint sie lächelnd: «Genau so wenig wie meine Enkel meine Jugend nachvollziehen können, genau so schwierig ist es für mich teilweise, mit dem Neuen zurechtzukommen.» Damit spielt sie vor allem auf die technischen Entwicklungen an, denn die wortgewandte 85-Jährige hat – zu ihrem Unmut – gewisse Anglizismen bereits in ihren Wortschatz aufgenommen. «Mainstream gab es auch in meiner Jugend. Damals mussten es echte Teppiche und Vorhänge sein. Dann kam der Trend mit den modernen Küchengeräten, die man auch haben sollte.» Es erschrecke sie, wenn sie ins Museum gehe und dort ihr Zeitalter ausgestellt sehe. 

Um sich fit zu halten, pflegt Adèle Lukácsi seit jeher einen guten Austausch mit den verschiedensten Generationen in allen Bevölkerungsschichten. «Es hat mich mein Leben lang sehr bereichert, im Beruf, in Vereinen und bei Hobbys mit unterschiedlichen Menschen zu verkehren.» Die Zeit in der Natur ist ihr überaus wichtig – diese ist ihre unvermeidliche Kraftquelle.

Auch mit stolzen 85 Jahren bleibt Adèle Lukácsi eine taffe Frau, die noch nicht daran denkt, sich ganz zur Ruhe zu setzen. «Es gibt noch etwas, das ich sehr gerne machen würde», sagt die Lyrikerin, ohne es zu verraten, und ergänzt abschliessend: «Im Grunde genommen ist alles gesagt, man muss es aber immer wieder neu sagen.»

Neben der Natur und der Musik sind die Menschen um sie herum die grösste Inspirationsquelle für die Schaffhauser Lyrikerin Adèle Lukácsi. Bild: Lara Gansser, Schaffhausen24
Lara Gansser, Schaffhausen24