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Kultur
28.02.2022

Ein Denkmal erschaffen

Das Haus «Zur Landkutsche» an der Neustadt, in dem Henri Eberlin mit seiner Familie wohnte, wurde bei der Bombardierung zerstört – eine Brandbombe fand bis ins Parterre.
Das Haus «Zur Landkutsche» an der Neustadt, in dem Henri Eberlin mit seiner Familie wohnte, wurde bei der Bombardierung zerstört – eine Brandbombe fand bis ins Parterre. Bild: zVg.
Der Schaffhauser Historiker und Publizist Matthias Wipf präsentiert sein neuestes Buch «Als wäre es gestern gewesen!» Es beinhaltet Erlebnisberichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Bombardierung von Schaffhausen am 1. April 1944. Es ist das letzte Puzzleteil zur Erforschung des prägenden Ereignisses.

«Nie werde ich den Augenblick vergessen, als ich dann am Fenster stand und sah, wie Mutter voller Schrecken auf unser Haus zulief. Sie hatte auf dem Nachhauseweg von der Cilag in die Stadt gehört, dass die Neustadt durch die Bomben schwer getroffen worden sei, und natürlich befürchtete sie das Schlimmste. Ich konnte ihr nun zurufen, wir seien in Sicherheit, und schon rannten wir auf die Strasse und fielen Mutter um den Hals.» Dies ist nur ein kurzer Ausschnitt aus dem Erlebnisbericht von Henri Eberlin zur Bombardierung von Schaffhausen am 1. April 1944. Seine Schilderung zu diesem Ereignis sowie die von 34 weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind im neuen Buch «Als wäre es gestern gewesen!» des Schaffhauser Historikers und Publizisten Matthias Wipf festgehalten. Ein letztes Puzzleteil in der historischen Forschung zur Bombardierung von Schaffhausen.

Für das kollektive Gedächtnis

Die Bombardierung von Schaffhausen durch die US Army Air Forces am 1. April 1944 ist das prägende Ereignis der jüngeren Geschichte von Schaffhausen. Dank den neuesten Forschungsergebnissen zur Bombardierung von Schaffhausen, die Matthias Wipf 2019 veröffentlichte, ist unzweifelhaft erwiesen, dass die Bombardierung durch die US-Bomberstaffeln ein Irrtum war. Der Experte in Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Schaffhausen präsentierte vergangene Woche seine neueste Publikation. Im Mittelpunkt stehen die Schilderungen von 35 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, welche die Bombardierung miterlebten, dabei unter anderem Familienangehörige oder Freunde verloren, selbst verletzt oder anderweitig durch das Ereignis geprägt wurden. Wo waren sie, als am 1. April 1944 fast 400 Spreng- und Brandbomben über Schaffhausen abgeworfen wurden? Was fühlten sie dabei? Woran können sie sich erinnern? 

Ob die Geschichte von Hans Bader, der durch dieses Ereignis Vollwaise wurde, aber gegenüber den Amerikanern kein Groll verspürt, Max Baumann, der sich an die grosse Sorge um eine Gesteinssammlung erinnert und als Pfadfinder half, diese zu retten, oder Ursula Oertli- Huber, die ohne den Einsatz ihrer Schwester das Ereignis nicht überlebt hätte – die facettenreichen Schilderungen sind ein wichtiger Beitrag an das kollektive Gedächtnis der Schaffhauserinnen und Schaffhauser. 

Innere Verpflichtung 

Die Interviewpartner von Matthias Wipf sind heute zwischen 81 und 96 Jahre alt. Sie stammen aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten und prägen das Generationenporträt. «Ich dachte eigentlich, ich hätte die Bombardierung umfassend erforscht. Aber ich spürte eine innere Verpflichtung, diese Zeitzeugenberichte auch noch festzuhalten», so der Historiker. Rund 200 Bilder aus den privaten Sammlungen der Interviewpartner bereichern zudem die Publikation.

Matthias Wipf wendet die Methode der Oral History an, die auf dem Sprechenlassen von Zeitzeugen, also mündlichen Quellen basiert. «Die Fakten zur Bombardierung sind seit meinem letzten Buch vor drei Jahren bekannt. Das sind nun die Geschichten und die Menschen dahinter», erklärt der Autor. Oral History sei von grosser Bedeutung. Von den Zeitzeugen, die er in den letzten Jahren interviewte, leben acht bereits nicht mehr. Die Erinnerungen sind dann verloren. Aber nicht nur die Interviews und das Transkribieren derselben gehörten zur Arbeit von Matthias Wipf: Zentral für die historische Forschung ist auch das Verifizieren und Plausibilisieren der Schilderungen. Alles in allem stellen die Erlebnisberichte wichtige Zwischentöne und Ergänzungen zu den schriftlichen Quellen dar, die nun für die nächsten Generationen bewahrt sind.

Der Wunsch des Autors ist, dass sein Buch «Als wäre es gestern gewesen!» auch an den Schulen gelesen wird. Gerade in dieser globalisierten, digitalisierten und schnelllebigen Welt gewinnt die Lokalgeschichte wieder mehr an Bedeutung und kann identitätsstiftend sein. Wenn es bisher schon nicht gelang, ein physisches Denkmal in Schaffhausen zu errichten, so wird vielleicht dieses Werk von Matthias Wipf in Erinnerung an das tragische und prägende Ereignis zum dringend benötigten Mahnmal.

Nathalie Homberger, Schaffhausen24